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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    In einem Anfall spontaner Rebellion gegen die Langeweile habe ich heute in den sozialen Netzwerken gepostet, dass Forscher herausgefunden hätten, der Corona-Virus werde durch Blickkontakt übertragen. Man könne sich vor einer Infektion schützen, indem man mit geschlossenen Augen durch die Welt gehe.
     
    Noch ehe ich mein "April, April!" darunter setzen konnte, wurde meine Fantasie zur Realität der Sicherheitsdürstigen. Auf Youtube sah ich Online-Tutorials, wie man sich mit geschlossenen Augen im Raum orientieren könne. In den Foren bildeten sich zwei Lager. Lager A: "Blickkontakt ist ein soziales Grundbedürfnis. Das lasse ich mir durch kein Virus der Welt verbieten. Macht endlich die Augen auf!" Lager B: "Wenn es nur darum ginge, den eigenen Tod zu bevorzugen, sei dir das zugestanden. Aber Blickkontakt ist eben verantwortungslos und sollte schnellstmöglich verboten werden." 
     
    Bundespressesprecher Seibert erklärte in einer Pressekonferenz: "Zwar tappt man, was die Erforschung des Virus angeht, noch im Dunkeln und sichere Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus sind derzeit noch nicht zu erwarten. Allerdings ist die Bundesregierung nach Rücksprache mit führenden Virologen zu dem Schluss gekommen, dass eine Übertragung des Virus durch die Augen nicht zu erwarten sei." Zu diesem Zeitpunkt wurde schon der erste Fall von panischer Selbstblendung berichtet.
     
    Dummheit ist viraler als jeder Virus.
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    noch ehe ich mir einen Reim auf all dieses machen konnte, schrieb sie mir gestern wieder: sie habe all meine Gedichte gelesen und präsentierte mir eine Auswahl ihrer liebsten Werke - darunter auch "Perpetuum mobile". Ob ich dies als Geste oder als Offenbarung deuten sollte? Jedenfalls zeigte ich mich überrascht und ergriffen - ich weiß nicht, ob mehr über das Interesse, das sie preisgab oder doch ob der Tatsache, dass sie, nach allem, Gedichte, deren Muse sie war, derart schätzen kann. Also fragte ich, ob sie es mir nicht verdenke, wenn ich über sie schreibe.
     
    "Wieso denn?" wiegelte sie ab: "Wie könnte ich dir böse sein, ehrliche Worte für deine Gefühle zu finden? Juhuu! Ich wurde verewigt! Und ein bisschen bilde ich mir etwas darauf ein, die Einzige zu sein, die deine Texte so lesen kann, wie ich sie lese. Deine Worte bringen dich mir näher." Nie hätte ich gedacht, dass mein verzweifelter Versuch, Ausdruck zu finden, einem anderen Menschen so viel bedeuten könnte. Verstehst du Babsi? Jemanden in meinem Leben zu wissen, der das, was man nicht in der Begrenztheit beschreibender Sprache widergeben kann, versteht, der den Menschen hinter der Person erkennt und annimmt, ohne zu werten, ohne zu verlangen - unabhängig davon, woraus dies erwächst oder wohin es führt, erfüllt es mich mit Dankbarkeit, die ich nie auszudrücken imstande wäre. Dennoch muss ich mich fragen: Ist ihr die Nähe meiner Worte genug oder sind Worte lediglich Ersatz für die wortlose Nähe, welche ich still ersuche?
     
  3. Schmuddelkind
    "Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren!", bete ich mir immer wieder vor, während ich die Dielen zähle. Schmuddi, du bist doch verrückt! Geh lieber mal ans Fenster! Da kommst du auf andere Gedanken.
     
    Der Typ im Kapuzenpulli trägt eine Packung Toilettenpapier - scheiß Angeber! Ansonsten sind die Straßen so leer, dass Berlin auch gut ohne auskommen könnte. Wie eine Stadt ohne Straßen wohl aussehen würde? Das wäre dann wohl ein einziges, riesiges Haus. Dann wäre es auch nicht so schlimm, das Haus nicht verlassen zu können. 
     
    Ach, das ist überhaupt das Blöde an der Quarantäne, dass man nicht mehr rauskommt. Ob es verantwortungslos wäre, ein Inserat zu schreiben? "Biete Aussicht auf Corona-Infektion gegen soziale Interaktion." Wenn der Verrückte freiwillig zu mir kommt... Ist vielleicht gar nicht so verrückt. Lieber jetzt anstecken, als in ein paar Wochen, wenn die Krankenhäuser überlastet sind.
     
    Diese Gedanken sind selbst mir zu absurd und so falle ich wieder zurück in die Langeweile. Es ist so langweilig, ich würde sogar arbeiten gehen, um etwas zu tun. Ich könnte ja mal meine Mutter anrufen... Nein, dafür ist mir nicht langweilig genug. Ach, ich werde einfach wieder die Dielen zählen. Das verliert eigentlich kaum an Reiz.
  4. Schmuddelkind
    Nachdem der Winter ausgefallen war, schneit es nun zum Frühlingsbeginn. Die Menschen auf der Straße verziehen das Gesicht darüber in erkennbarer Empörung, fast so, als glaubten sie, ihr Gesichtsausdruck könnte irgendetwas an der Willkür höherer Mächte ändern.
     
    Hier drinnen ist es mir hingegen völlig egal, ob es schneit, regnet oder stürmt. Ich bin über das Wetter erhaben. Genau genommen bin ich über all eure Belange da unten erhaben. Gesteigerte Grundaggressivität, sinkende Aktienkurse, Hamstereinkäufe, aufgeblähter Organschwarzmarkt - geht mir alles am Arsch vorbei. Ich bin ein Gott und lebe von euch entrückt in meinem absolut ereignislosen Himmel. Huldigt mir und lasst euch von meinem Segen infizieren! Ich führe euch in mein Himmelreich und setze euch die Corona der Absolution auf!
     
    Wahrlich, ich sage euch. Gesegnet seien die Umtriebigen; denn sie werden in Quarantäne ruhen. Gesegnet seien die Hungernden; denn sie brauchen kein Klopapier. Gesegnet seien die Toten; denn sie können nicht sterben.
     
  5. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du hast sicher recht: die wahre Bedeutung ihrer Worte könnte ich wohl nur erfahren, wenn ich mit ihr spräche. Allein - wie oft kann ein Herz brechen, ehe es zugrunde geht? Stattdessen sitze ich also seit gestern über ihren Brief und deute jedes einzelne Wort. Ich analysiere, kombiniere und fantasiere, doch statt das Undeutliche in einen Sinn zu fügen, werde ich mir selbst ganz undeutlich.
     
    Was hat es zu bedeuten, wenn sie über ihre Entscheidung "nachdenkt"? Heißt es "überdenken"? Oh, für einen Augenblick bin ich der glücklichste Mensch der Welt, ehe der Verstand einwendet: Aber warum schreibt sie, sie hätte mich nicht verdient? Vielleicht bedeutet "nachdenken" also reflektieren und in dieser Reflexion hat sie ihren Frieden mit dem gegenwärtigen Zustand gefunden. Wie kann ich wieder so hochmütig sein und glauben, sie könne es anders sehen? Dennoch drängt sich mir dann aber die Deutung auf, sie wolle mich einladen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Was soll "verdienen" überhaupt bedeuten? Hat man nicht den Menschen verdient, der sich nach einem sehnt, gerade weil er sich nach einem sehnt? Treffen dort nicht Ursache und Wirkung in einem Punkte zusammen? Ist das nicht das Erfüllende an der Liebe, dass sie keines äußeren Anlasses bedarf, dass sie sich aus sich selbst heraus entfaltet?
     
    Ach, ich drehe mich im Kreise - und wenn ich noch so klug wäre, drehte ich mich nur umso schneller im Kreise. Liebe kann doch nicht in solch komplexen Gedanken gedacht werden. Man kann sie nur geschehen lassen. Wie kann ich mich erdreisten, ihre Gefühle in meine Gedanken zu zwängen? Doch es zerreißt mich - die Ahnungslosigkeit, dieses... ach! Beschränktheit und Unendlichkeit und ich dazwischen! Reift in dir auch zuweilen der Wunsch, dich für einige Zeit aus deinem eigenen Leben zurückzuziehen, um dann wieder einen Blick hinein zu wagen und festzustellen, ob es inzwischen richtig erscheint, wieder du selbst zu sein?
     
  6. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    da sich das Osterfest allmählich nähert, fragte sie, wie ich Ostern denn verbringen wolle und sogleich überschlugen sich ihre Worte und sie schien nicht die Macht besessen zu haben, ihren Text zu ändern - oder sie will ganz ehrlich sein oder ich lese wieder zu viel hinein: dass dies doch der Tag habe werden sollen, an welchem wir uns gesehen hätten, dass sie zu Ostern ganz allein sein werde, dass wir einander vielleicht ein anderes Mal besuchen sollten, wie bemerkenswert sie es finde, dass ich trotz allem noch immer an ihrem Wohlergehen interessiert sei und wieviel ihr unsere Freundschaft bedeute und dass ich überhaupt ein ganz besonderer Mensch sei, was sie dazu veranlasst habe, wieder über ihre Entscheidung nachzudenken: "Ich hätte dich überhaupt nicht verdient."
     
    Was soll das alles heißen? Ist dies Trost? Ist dies Folter? Ist dies Bedauern? Verzweiflung? Hoffnung? Und doch erkannte ich mich in den Wirren ihrer Worte wieder. Ach, so viel tröstende Vertrautheit in der Verwirrung! Und doch so viel Schmerz in ihrem Trost! Und Nähe! Ja, Nähe in unserem Leid!
     
    Ich übte mich in Zurückhaltung und schrieb lediglich, dass ich zu Ostern ebenfalls allein sein werde und verschwieg ihr meine Gründe und sah, wie ihre Einsamkeit die meinige spiegelt, so wie mein Verlangen ihre Zerrissenheit, ihre Zerrissenheit mein Leid spiegelt. Irgendwo in diesem Spiegelkabinett sah ich mich zu ihr aufbrechen, dass die Welt an mir vorüberrauschte, während ich ihr immer näher kam und alle die Widersprüche der Wirklichkeit, Sehnsucht und Geborgenheit, Unrast und Ruhe, Tag und Nacht und Dunst und Regen, sich in einem Kuss vereinten. Jedoch wusste ich, dass so sinnhaft nur Träume sein können und beließ meine Antwort dabei. Stattdessen schrieb ich ein Gedicht:
     

    Dein Trost 
     
    Dein Trost ist Grund, warum ich leide.
    Drum tröste mich noch öfter, herzlich, wahr!
    Denn wenn wir uns umarmen, beide,
    dann bin ich deinem Busen ach so nah.
     
  7. Schmuddelkind
    Nun Babsi,
     
    ich versuche mich, so gut ich kann, abzulenken. Doch jede Naturschönheit offenbart, wie wenig ich von der wahren Schönheit der Welt sehen kann, wie unvollständig ich ohne ihre Anteilnahme bin. In allen Dingen fehlt sie und dies ist alles, was ich sehe. Jede Handlung, durch die ich mich ausdrücke, drückt zugleich aus, wie sehr ich sie vermisse. Wie gerne würde ich wieder ihrer Stimme lauschen! Ich sehe ein, dass ich es mir nicht gestatten kann. Doch diese Einsicht verschlimmert nur meine Sehnsucht.
     
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute träumte ich von meiner Verdandi: Die Luft hatte sich durch die vorangegangenen Gewitternächte abgekühlt und leichter Nieselregen kitzelte auf der Haut, als wir durch das hüfthohe Gras gingen, von dem wir mit den Handflächen Tropfen pflückten. Die Bäume meidend, die hin und wieder ihr nasses Haupt schüttelten, wussten wir in dem grünen Meer bald nicht, was unser Weg war. Doch noch tiefer war ich verloren im andächtigen Anblick ihres zarten, hellen Gesichts, in welchem sich eine dunkle Strähne verfangen hatte. Sie blickte freudig nach vorn und hatte keine Regung, die Strähne aus den Augen zu streifen und spätestens da überkam mich die Bewunderung für die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie alle Seins-Umstände annahm. Jede ihrer weichen Bewegungen, jeder feine Gesichtszug, jedes Wort drückte eine wundervolle Erhabenheit über die Zukunft aus.
     
    Als wir an einem See ankamen, ach, wie klar spiegelte sich der Wald darin, der das Gewässer zur Hälfte umschloss und zugleich auf einer Halbinsel von ihm umschlossen war! Da wurde der Regen mit einem Mal heftig und ich entfernte mich ein paar Schritte vom Ufer, um mich unter eine Eiche zu stellen. Indes zog sie ihre Kleidung aus, legte sie auf einen Felsen und sah mich an aus Augen, die so eindringlich eine Antwort einforderten, wie sie zärtlich fragten. Ich wusste nicht, ob ich mehr über die Handlung an sich verblüfft war oder über die Schönheit, die sie enthüllte. Ach, wie der Regen sanft ihre Brust hinab perlte! "Du willst doch da nicht wirklich hinein!?" rief ich ihr zu. "Wieso nicht? Im Wasser regnet es nicht." Ich zögerte einen Moment und rief: "Da hast du wohl recht" und erst jetzt begann ich mich darüber zu wundern, dass ich noch immer so weit von ihr weg war, um rufen zu müssen. So nah wollte ich ihr sein, ihr zu zuflüstern und folgte ihr in den See. 
     
    Dann wachte ich auf und ihre einladende Nähe wich der unendlichen Ferne. Ich ersehne Vergessen, erstrebe das Nichts und senke meine Lider... in ihren suchenden Blick. Ach, in jeder Erinnerung, in jedem Traum, jedem Bild, das mir aus der Fantasie in die Sinne schimmert, finde ich nur sie und Traum und Wirklichkeit trachten einander nach dem Tode.
     
  9. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    ich leide an der Schönheit der Welt. Ich höre Kinder lachen wie des Frühlings Atem, wie ein Jetzt, dem das Nachher weicht. Und ich gehe zum Fenster und sehe den friedvollsten Sonnenschein und die Bäume voller Zuversicht sprießen. Dies alles ist mir zum Spotte zugedacht. Ich leide an allem, was gut ist, schwärzte die Blumen und schüfe ewige Nacht, wenn mir im Augenblicke, da ich mich nicht mehr in der Welt erkenne, solche Macht zuteil würde.
     
    Dennoch gehe ich hinaus, neige mich nach dem Frühling hin, spüre die Wärme mir durch jede einzelne Pore strömen. Ganz ergreift die Harmonie der Natur Besitz von meinen Sinnen - die Wiese am Hang wird von derselben Sonne in saftigem Grün widergegeben, die die Blümlein am Wegesrand zum Blühen anregt und das Große und Weite findet sich im Kleinen und Nahen wieder - und keinen Anteil habe ich daran. Ganz und gar nichtig bin ich schon, doch nichts kann mir genügen. Vor Verwirrung vergehe ich und verlange nach mehr. Aus einem Blick wird ein Spaziergang. Aus einem Spaziergang wird eine Wanderung. Aus einer Wanderung wird eine Odyssee. Ganz gleich wie weit ich gehe - nie komme ich an.
     
  10. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihre Freundschaft ist das Wertvollste, das mir noch geblieben ist. Also gebe ich vor, dass ich mein Begehren hinter mir gelassen habe, um dieser Freundschaft den Raum zu geben, den sie braucht. So finde ich mich wieder in der Tragik, dass ich ihr Scherze schreibe, während ich weine. Was ist das für eine Welt, in der ich leiden muss, um sie glücklich zu erleben? Doch wie leidvoll wäre die Welt ohne ihre Freude? Nur in dieser Selbstleugnung dämmert irgendwo in der Ferne etwas sinnhaft hervor. Es ist mir unmöglich, bei klarem Verstande ich selbst zu sein. Entweder bin ich vernünftig oder die Welt ist es, keinesfalls beides.
     
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    es wäre anmaßend von der Welt Gerechtigkeit zu verlangen, doch ebenso anmaßend wäre es von einem Menschen zu verlangen, die Ungerechtigkeit hinzunehmen. Welchen Sinn soll das alles haben? Sie verstehen wie ich nur sie verstehen kann, wie nur ich sie verstehen kann, derart vertraut zu sein, und doch einsam bleiben! Zwischen all den bekritzelten Papieren stützt sich mein Ellbogen auf meinen Schreibtisch, mein Kopf in die Armbeuge eingesunken und mehr aus der Erinnerung als mit den Augen lese ich seit Stunden ihre Briefe, höre sie vielmehr mir vorlesen und versuche zu verstehen, welche Fehler ich gemacht haben muss, worin mein Hochmut gründete. Doch wenn ich es nicht besser wüsste, wenn dies Briefe wären, zu denen ein Freund meinen Rat erfragte, so könnte ich ihm nur begründete Hoffnung aussprechen, denn so viel bedeutsame Zuneigung kann doch nicht einfach im Nichts versiegen.
     
  12. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    vor einigen Tagen entdeckte ich die grünen Berge des Spessarts bei Gelnhausen für mich. Ganz war ich in der gewaltigen Erscheinung verloren, die ein Mensch nicht zu erträumen vermag und ich wollte nicht länger in ohnmächtiger Bewunderung verharren. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich seiner würdig erwies, offenbarte der Berg mir eine neue Seite seiner Selbst, vertraute mir ein Geheimnis an. Mit jedem Schritt spürte ich mehr meines Körpers und ahnte, dass ich am Gipfel bei mir selbst ankommen würde. Als ich über die letzte Anhöhe stieg und der Boden sogleich dem Himmel wich, stand ich mit offenem Munde da, ungläubig, wie klein alles ist, wie klein ich gewesen.

    Die unbeherrschte Weite stand mir offen und entzog sich doch meinem Begreifen und ein schmerzhafter Schrei stieg meine Kehle empor und ist doch stumm geblieben. Sie war der Horizont - unerreichbar! Und wenn ich versucht hätte, ihn zu berühren, mich weit nach vorn auszustrecken, wäre ich den Berg hinabgestürzt und der Horizont wäre aus meiner Sicht entschwunden. Ich muss einsehen, dass das Glück sich nur aus der Ferne zeigt und wenn man versucht, es in sein Leben einzuschließen, rückt es nur weiter in die Ferne. Und doch - wie soll man derart unerfüllt vor sich auf den Boden blicken und sehen, dass man steht, wenn einem vor dieser ungekannten Aussicht zu schweben zumute ist? Und so sehr diese Erfahrung mich quält - immer wieder suche ich sie seither auf, wie im Wahn.

    Als ich mich heute zum ersten Mal wieder der Welt der Schriftsteller zeigte, durfte ich einige Briefe von ihr lesen - alles kurze, fragende Texte ("Wo bist du denn, du Lieber?" "Ich hoffe, es geht dir gut!" und dergleichen) und sogleich schrieb sie mir erneut: "Du bist wieder da! Es war ganz schön leer ohne dich." Ob ich sie meide oder ob ich aus unglückseliger Distanz an ihrem Leben teilhabe - immerzu fehlt mir etwas. 

    In ihrer Wortwahl, in der Kürze ihrer Sätze, die mehr zu verbergen als zu offenbaren suchten, konnte ich eine ungenannte Sorge erkennen. Leidet sie etwa an der Ungewissheit, in der sie unsere Freundschaft wiederfindet? Wenn wir miteinander gesprochen hätten, hätte es mir die Sprache verschlagen, sie so in Sorge zu erleben. Gerne hätte ich sie getröstet und konnte doch nur Unzureichendes schreiben. Wie soll man jemanden in Zuversicht wiegen, wenn man selbst Trost braucht, in der Gewissheit, dass nichts wieder gut werden könne? Ich beschloss all dem keinen Grund zuzugestehen, in der Hoffnung, das Grundlose könne nicht fortbestehen.
     

    Perpetuum mobile
     
    Scheinbar ohne einen Grund
    ach, haben deine Wangen
    deine Tränen, dick und rund
    behutsam aufgefangen.
     
    Gefangen darin schaut ein Mann
    zu mir und leidet stumm
    und fängt sogleich zu weinen an
    und weiß nicht recht, warum.
     
  13. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    der Unmittelbarkeit ihres alles erfassenden Wesens ausgeliefert - das könnte ich nicht ertragen, auch wenn ich mich noch so sehr nach ihrer Stimme sehne wie nach den naiven Tagen, als das Schicksal unmerklich seinen Lauf nahm. Aber wir schreiben einander und geben mit größtem Bemühen vor, es wäre nichts geschehen. 

    Heute tauschten wir uns über Heines "Das Fräulein stand am Meere" aus und ich zeigte meine Bewunderung darüber, wie er im Moment der tiefsten Bekümmertheit und des sehnsüchtigen Ausgreifens nach der Unendlichkeit ganz lapidar auf den alltäglichen Lauf der Dinge verweist und darauf, dass die Sonne wieder aufgehen werde. Was ich für mich behielt, schrieb sie als sensible Betrachtung aus: "Aber in dem Augenblick gibt es für das Fräulein keinen Lauf der Dinge. Es gibt nur einen endgültigen Sonnenuntergang." Oh, diese Endgültigkeit überschattet mein ganzes Dasein.

    Zumindest bemühe ich mich also, auch ihr zuliebe, nicht mehr darüber zu sprechen. Und doch kann ich nicht anders, als all mein Leid in Poesie einzufassen und sie kann nicht umhin, meine Gedichte zu lesen - das weiß ich. Sie leidet meine Tränen und ich beweine ihre Melancholie. Wieso kann ich es uns beiden nicht einfacher machen? Reicht es nicht aus, wenn einer leidet? Ich bin mir selbst fremd, aber ich würde sonst ersticken. Nun gut, so erhält sie also einen Einblick in meine Wunden und kann doch die Tiefe meines Leidens zum Glück nicht erahnen.
     

    Trauermaske
     
    Geschützt reich ich dir eine letzte Rose,
    eine Trauermaske vorm Gesicht.
    Du siehst nur meine eitle Schwermutspose.
    Meine langen Tränen siehst du nicht.
     
  14. Schmuddelkind
    Danke Babsi,
     
    für deine Anteilnahme! Bedrängen wollte ich sie sicherlich nicht mit meiner Ehrlichkeit, aber ich gebe zu, dass ich es billigend in Kauf genommen habe, um nicht im Nebel zu stehen. Weiterhin will ich ihr und mir aber von nun an etwas Ruhe gönnen. Wenn es nicht so schwer wäre! Sie rief mich an und ich, ach... ja, ich wollte es klingeln lassen. Über die ersten vier Klingelzeichen war ich auch erhaben, aber das fünfte hat mich überzeugt, doch den Hörer abzunehmen. Es ist... du kannst dir den Mangel in meiner Seele nicht vorstellen, als ich ihr zu verstehen gab, dass ich zumindest für eine Weile nicht mehr mit ihr telefonieren möchte. Ach, "möchte" - pfui! Welch schlecht gewähltes Wort! Überhaupt sind alle Worte von mir falsch.

    Sie spürte den Schmerz in meiner Stimme. Ihre Seufzer tasteten sich vorsichtig im Dunkeln voran und suchten nach Worten des Trostes. Doch da sie ahnte, dass mir in ihrer Stimme mehr Leid als Linderung zuteil wird, beließ sie es bei einer schüchternen Verabschiedung. Doch keiner von uns war bereit aufzulegen und da es sonst nichts zu sagen gab, das sie oder ich auszusprechen gewagt hätte, schwiegen wir eine Weile unseren Mangel in das Telefon hinein, bis sie schließlich fragte, ob ich wieder einen schönen Spaziergang gemacht habe.

    Ich erwiderte, dass ich an der Pferdekoppel vorbei ging und gerade als ich zum Glauben neigte, man bekomme im Leben nichts geschenkt, entdeckte ich ein Schild mit der Aufschrift: "Pferdemist kostenlos abzugeben." Da musste sie ganz erheitert lachen. So glücklich ich war, sie lachen zu hören, so quälend wurde mir bewusst, wie sehr ich ihr Lachen vermissen werde. Auch fragte sie nach meiner Magisterarbeit und ich gestand, dass diese unter dem schönen Wetter leide und wieder durfte ich sie ganz vergnügt erleben und wieder litt ich an den Widersprüchen, die dies aufwarf. Schließlich verabschiedete sie sich erneut, um sich zu besinnen, doch noch etwas tief Empfundenes zu sagen: "Ich bin so froh, dass es dich gibt. Ich bin immer für dich da." Daraufhin legte ich auf, da ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Und noch unter Tränen schrieb ich dieses Gedicht:
     

    Untröstlich
     
    Wie ist mir wohl, berührst du meine Hand,
    ihr wildes Zittern mit Gefühl zu stillen
    und mir dieser Tage beizustehen!
     
    Du hast des Trostes Anlass wohl gekannt.
    Drum Liebste, lass sie los um Himmels Willen!
    Denn ich werd daran zu Grunde gehen.
     
  15. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich suche nach beschönigenden Umschreibungen in der Hoffnung, wenn es mir leichter von der Hand gehe, sei es auch leichter in meinem Herzen zu tragen. Aber es hilft nichts. So ernüchternd, wie es über mich kam, so ernüchternd muss ich es mit dir teilen: Sie sagte ihren Besuch gestern ab. Hin- und hergerissen sei sie gewesen zwischen Vorfreude und Zweifel. Wenngleich ich genau verstehen konnte, wie ihr zumute sein müsse, fand ich mich trunken im Zwiespalt innerer Kräfte. Da konnte ich nicht anders, als wenigstens in einem Punkte Klarheit zu suchen, denn in der Hingabe zur Ungewissheit ahnte ich düstere Ewigkeit, und ich eröffnete ihr die gesamte Tiefe meines Empfindens.

    Dich wird interessieren, wie ich mich angestellt habe, doch dies macht keinen Unterschied. Sie teilt meine Liebe nicht und nichts ist mehr von Belang. Zwar schrieb sie mir die liebsten Komplimente - und selbstpeinigend trug ich sie mir heute immer wieder vor - zwar befand sie, dass sie keinem Menschen so viel anvertrauen könne wie mir - ach, warum ausgerechnet mir? Und ich träumte von einer Welt, in der sie diesem Vertrauen zum Zeichen ihre Hand in meine legt. Zwar meinte sie, sie müsse wohl verrückt sein, doch sie empfinde nicht dasselbe wie ich und ich erkannte, dass die ganze Welt ein großes Missverständnis sein muss.

    Die Wirklichkeit wollte ich mir austreiben - mit Wein und Poesie - und bin heute doch wieder darin aufgewacht. Dann schrieb ich ihr einen Brief, von welchem ich einen Auszug mit dir teilen möchte:
     
    "Gestern Abend habe ich sehr klar gesehen, dass dies ein Ende und ein Anfang zugleich ist, aber ich habe das Ende zunächst höher gewichtet.

    Heute Morgen aber habe ich darüber nachgedacht, welche Gründe ich meinte zu erkennen, dass du meine Gefühle erwidern könntest und da kam mir z.B. die folgende Aussage in den Sinn: "Wenn du noch einen solchen Schwächeanfall erleidest, dann rufe mich an, auch wenn es nachts um drei ist!". Ich hatte den Gedanken als unsinnig von mir gewiesen, dies könntest du aus Freundschaft gesagt haben, denn es schien mir viel zu aufopfernd und empfindsam dafür zu sein.

    Jetzt, da ich aber weiß, dass du dies aus der reinen freundschaftlichen Liebe heraus gesagt hast, bin ich umso glücklicher darüber, denn so viel Nähe findet man nicht alle Tage und wenn ich mir diesen Satz in diesem Bewusstsein selbst sage, dann steigen mir fast Freudentränen in die Augen. 

    Und es hat mich dazu angeregt, weiter über Freundschaft und Liebe zu reflektieren. Fast neige ich dazu, dass freundschaftliche Liebe schöner und umfassender ist, als die Liebe zwischen Frau und Mann. Die Liebe unter Freunden ist leicht und geduldig. Sie trägt so natürlich empor und erträgt so Vieles. Die Liebe zweier Liebender ist schwer. Sie verschlingt beide völlig in dem Gedanken, für den Anderen zu leben, dass die Seele erstarrt und sich nur aus ihrer Starre zu befreien weiß, indem sie aufhört zu lieben. Ich neige dazu zu glauben, dass die wahre Liebe in der Freundschaft liegt und ich bin so dankbar, mit dir befreundet zu sein und erkenne, dass ich so viel mehr gewonnen als verloren habe!"

    Das klingt alles sehr sinnig und heilsam, nicht wahr? Und beinahe überzeugen meine Worte mich auch. Doch ganz gleich, wieviel Wahrheit darin ist - die Welt ist eine Lüge und kaum mehr kann ich in meinen Worten sehen als der hinterlistige Versuch meines Verstandes, mich zu trösten. Nein, ich kann mir vor ihrer Allgegenwart selbst kein Freund sein! Jedenfalls werde ich nicht mehr mit ihr telefonieren.

    Abschied
     
    Ich stehe stumm im Regen,
    winke dir, als wenn ich wüsste...
    Oh, du vielfach Ungeküsste,
    wenn ich wüsst weswegen...
     
  16. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute war sie nicht erreichbar. Nur dass sie morgen wieder Zeit für mich habe und dass ich nicht traurig sein solle, schrieb sie mir. Dieser Tag fühlte sich wie vergeudet an, der Bedeutungslosigkeit hingegeben. Im Waldesrauschen hörte ich ihren Atem meinen Gedanken entgegen zittern und in meinem Seufzen verstummen. Und ich kehrte ein in die Zärtlichkeit ihrer Neugier und ihre arglose Weisheit und ihre tief schöpfende Fröhlichkeit in so vielen Worten und bloß Laut gebliebenen Gedanken, dass ich die unzureichende Gegenwart nicht ertragen konnte. Gerne wüsste ich, wie es ihr geht. Doch leider... leider weiß ich nichts.

    Wie kann man einen Menschen derart vermissen, den man nie zuvor gesehen hat? So manchen Tag schon habe ich mich nach Begebenheiten zurückgesehnt, die lange vor meiner Zeit geschehen waren - wie jemand, der sich wehmütig an seine Jugend erinnert - an Zeiten, da man sich eines Wandels teilhaftig fühlen konnte. Doch nie war diese Sehnsucht so lebhaft wie jetzt und nie war sie so begründet wie in ihr.
     
  17. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    schon hält der Ruf der Unendlichkeit jede kleinste meiner Regungen in ihrem Bann und nur in unserem gemeinsamen Ausgreifen nach der Ferne finde ich Trost. Als wir inmitten unserer Träumereien versunken waren, wie es wohl sei, wenn wir einander begegnen und gerade als ich ihr in Worte zu fassen versuchte, wie oft mein Geist weit nach ihr ausschweife, entfuhr ihr plötzlich: "Oh, der Vollmond! Siehst du ihn auch?" 

    Also lehnte ich mich weit aus dem Dachfenster, die Füße in der Dachschräge eingehakt, um den Mond hinter dem Dach hervorschimmern zu sehen. Oh, dass wir denselben Mond sehen und sich vor seinem friedvollen Angesicht unsere beiden Welten zu einem einzigen Bild fügen! Keine Minute ließ mich dieser Mond heute Nacht schlafen.
     
  18. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich wollte dir ja noch von meinem Wortwechsel mit Sanny berichten. Sie besitzt die angenehme Gabe, den ganzen Raum auf einen Gegenstand zu konzentrieren, bis man fast alles daran erkennen kann, um diese ganze Spannung schließlich in ein heiteres Nichts zu verwandeln. Das muss dir jetzt ganz und gar unverständlich erscheinen, verzeih! Lass mich es dir an unserem Gespräch von gestern Nacht erklären. Erst danach halte mich für verrückt!
     
    Sie nahm mein neues Gedicht in den Blick und wollte auf charmante, aber direkte Weise wissen, ob nur das lyrische Ich so leide oder ob es dem Autor ähnlich ergehe:
     
    Gedankenlos
    Die Gedanken sind stumm,
    durch die Nacht singt die Geige
    ein wunderbar trauriges Lied.
     
    Bin zu leben zu dumm
    und zu sterben zu feige,
    erleide, was um mich geschieht.
     
    Zunächst schrieb ich ihr in etwa das, was ich dir nicht zu erklären brauche, weil du das alles schon kennst und sie schenkte mir viel Achtsamkeit. Als sie aber fragte, warum die Gedanken stumm seien, wenngleich ich so viel darüber sinniere, verhalf sie mir zu einem noch tieferen Verständnis meines Gedichts, ach, meiner Selbst. Als hätte sie sich in jenen Tiefen befunden, wohin ich nie vorzudringen wagte, aus welchen dieses Gedicht emporstieg! Fast schon erschrocken war ich über die Klarheit meiner Antwort: "Ich wollte damit wohl zum Ausdruck bringen, dass ich mich nach etwas sehne, das es wert wäre, darüber den Verstand zu verlieren." Wieviel Drang sich hinter meiner Resignation verbirgt, hätte ich ohne Sanny nie verstanden.
     
    Plötzlich wurde die Tiefe ihres Gedankens durch die Tiefe ihres Mitempfindens abgelöst: "Eine solche Erfahrung wünsche ich dir" und verlor sich schließlich, als wäre nichts Bedeutsames vor sich gegangen, in einem Scherze: "Wenn es sich einrichten lässt, ohne dass du den Verstand verlierst - den brauchen wir hier alle noch." Also stimmte ich in den Scherz ein: "Oh, wie großzügig von dir!", woraufhin sie mit Verweis auf meine Gedichte versicherte, sie habe es aus purem Eigennutz gesagt.
     
    Da habe ich so viele gelehrte Menschen - Doktoren, Professoren, Künstler - kennenlernen dürfen, darunter auch Einige mit feinem Geist versehen. Aber keiner von ihnen vermöchte mit einer derart einfachen Frage so viel Tiefblick zu befördern. So habe ich erkannt, dass es der Welt überhaupt nicht an guten Antworten mangelt. Nein! Der Welt mangelt es an guten Fragen.
  19. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du weißt, dass ich in meinem Verhältnis zur Natur immer die Beschaulichkeit der Freiheit bevorzugt habe, weswegen mich es auch immer in den dichten Wald zog. Die Weite einer Landschaft, in der man hinter dem Horizont eine Unendlichkeit erahnen kann, ängstigte mich bloß, da ich mir darin vollkommen verloren, fast schon entschwunden erschien. Doch heute, aus Gründen, die wohl außerhalb meines Denkens liegen, führte mein Pfad an dem mir sonst so zugeneigten Wald vorbei, zunächst entlang einer rustikalen Pferdekoppel, bis ich schließlich am Enkheimer Ried ankam, ein Bachlauf, der seine Spuren überall umher zwischen Röhricht und Strauchwerk hinterließ und mich in seiner Ursprünglichkeit an eine Zeit erinnerte, die ich nie erleben durfte. Von dort erblickte ich einen sanft ansteigenden, zunächst recht klein wirkenden Hang, der sich jedoch, einmal auf dem Weg begriffen, sehr zu strecken vermochte. 

    Doch von dort oben konnte ich meine ganze Welt beschauen: Maintal, wie es im tiefen Winterschlummer lag, daneben meinen Wald als einen weißen Traum und am rechten Bildrand verschwindend ein vorsichtiges Dämmern der Lichter Frankfurts. Auch konnte ich in der Ferne den Main erkennen, wie er von Hanau herbei taumelnd, sich gerade bei Maintal besinnt, einer Richtung zu folgen. Babsi! Du ahnst nicht, welchen Eindruck dies auf mich machte und wie ich mich ganz dem Strom der Empfindungen und Einsichten hingab! Wenn mir auch meine Stube eng und bedeutungslos erscheinen mag, muss mich dies gar nicht weiter kümmern, da ich doch die ganze Welt für mich habe. Die Welt ist überhaupt keine Bedrohung, wenn man sie ganz klein werden lässt und alles ist leicht.

    Auch bin ich immerzu zum Scherzen aufgelegt, gerade wenn ich Sanny schreibe. Versteh mich nicht falsch! Wir haben die vertrautesten Gespräche, wie zwei Freunde, die einander wohl schon länger kennen müssen und Einiges gemeinsam durchgestanden haben und wie zwei Freunde können wir Späße treiben, die man nur Freunden anvertraut. So führte unsere letzte Unterhaltung durch alle Glücksbezeugungen und Grausamkeiten der Liebe, vielleicht nur, dass ich sie mit der mir eigenen scherzhaften Übertreibung zum Lachen bringen konnte. Von drei Sorten Frauen berichtete ich, die es im Verhältnis zu mir gebe: Jenen, die mich bemuttern, weswegen ich zu klein für die Liebe werde, solchen, die mich bewundern, die mich zu groß für die Liebe werden lassen und den dritten, die mich ignorieren und denen daher nicht zu helfen sei. Sie hat wirklich einen Sinn für Derartiges, das ich mit dem Großteil der Welt nicht teilen kann und auf diese Weise befreit sie mich aus dem Gefängnis, das ich mir manchmal selbst bin.
  20. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    am Tag darauf haben wir wieder so lange miteinander gesprochen und gestern erneut bis in die späte Nacht hinein, da alles umher so schön still war und es nichts weiter gab als Sannys Stimme. Wie viel reichhaltiger ist die Welt, wenn sonst alles verstummt! Da ich aber wusste, dass sie heute früh aus dem Bette steigen musste, drängte ich immer wieder gegen all mein Verlangen darauf, das Gespräch bald zu beenden. Doch sie ließ sich einfach nichts einreden: "Ich will noch nicht gehen. Erzähl mir noch etwas, du Lieber!" 

    Also ließ ich das Thema zu unserer gemeinsamen Leidenschaft, der Dichtkunst, hingleiten, wollte ich sie doch ohnehin bewegen, ihre Texte einem Verlag zukommen zu lassen. Es ist nämlich bedauerlich, dass so wenige Menschen nur dazu kommen, diese Schönheit zu besehen. Mit einem Gedichtband wäre dies sicher anders. Jedoch lehnte sie überzeugt ab: "Ich weiß, was Menschen mit Ideen machen. Sie malen sie bunt an, besetzen sie mit Lügen und lassen einen Hampelmann so tun, als wären es seine. Das möchte ich nicht mehr", womit sie auf ihre Vergangenheit als Sängerin verwies. Dazu habe ich auch ein Foto aus jener Zeit gesehen, weswegen ich ihr nur recht geben konnte. Babsi, was sie aus dem schönen Mädchen machten! Sie haben einen bunten Papagei aus ihr gemacht. Wie bin ich froh, dass sie dieser Welt entschlossen den Rücken kehrte!

    Ihren Gedanken schloss sie mit den wahrsten Worten ab: "Für das, was ich liebe, will ich kein Geld und keine Bestätigung. Nein! Nur das Gefühl, mich selbst darin wiederzuerkennen." Als ich gerade versuchte, mich ob so reiner Lebensweisheit und Integrität zu sammeln und daraus zu lernen, griff sie plötzlich wie ein Wetterumschwung zur Gitarre und sang mir ihre Lieder. Sie besang die Liebe, die Trauer, die Hoffnung und den Mut und all diese Empfindungen haben sich zu ihrer Stimme vereinigt. Und ich, ich hörte einfach nur zu. Ich dachte an nichts, ich sehnte nach nichts. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich einfach nur zu.

    Schließlich musste das Gespräch wohl doch noch ein Ende gefunden haben, aber seither füllt eine ungeahnte Erwartung mein ganzes Denken, da sie vorschlug, mich einmal zu besuchen, um mit mir eine gemeinsame Ballade zu schreiben, wobei jeder von uns einer Figur seine Gedanken und Empfindungen verleihen solle. Da wäre das Leben in der Poesie enthalten und die Poesie im Leben. Meine Begeisterung darüber konnte ich ihr nicht vorenthalten und ihr wurde wohl in diesem Augenblick erst gewahr, was sie preisgab: "Oh, ich hoffe, ich war jetzt nicht zu mutig. Nicht, dass du es am Ende noch bereust! Ich kann nämlich ganz schön eigenwillig sein." Nachdem ich ironisch erwiderte, dass mir das noch gar nicht aufgefallen sei, ergingen wir uns in verspielter Neckerei, bis wir einander eine gute Nacht wünschen konnten.
  21. Schmuddelkind
    Verzeih Babsi,
     
    dass ich dir neulich ihre Antwort vorenthielt! Das muss mir wohl schon selbstredend gewesen sein. Inzwischen kam es auch bereits zu unserem ersten Telefongespräch. Beide waren wir sehr neugierig, jedoch auch aufgeregt - es ist auch freilich ein merkwürdiger Hergang, mit einem Menschen bereits so vertraut zu sein, ehe man auch nur ein Wort mit ihm gesprochen hat. Doch als ich zum ersten Mal ihre zarte Stimme vernahm - "Du Lieber! Ich hoffe, du sitzt bequem. Ich habe dir so viel zu erzählen." - da war mir, als führten wir einen Gedanken aus den Ursprüngen unserer Seelen fort, wovon wir nur eben kurz abgelenkt gewesen wären und alle Erwartung, alle Befürchtung war verflogen, verlor sich in einem sechsstündigen Gespräch. 

    Davon kann ich dir nur wenige Einzelheiten wiedergeben. Zu sehr war ich wohl eingegangen in der Gegenwärtigkeit, dass ich nicht an ein Danach dachte, in welchem ich mich daran erinnern müsste. Nur dass sie viel lachte, weiß ich noch - und wenn sie lacht, ist ihre Freude meine ganze Wirklichkeit. So viel weiß ich noch und dass ihre Worte ein Fenster zu einer fantastischen Welt sind, welche ich so bald wie möglich wieder beschauen möchte.

    Gerade wollte ich den Brief damit abschließen, da stieg doch noch eine Erinnerung in mir auf, die du als sinnhaft verstehen kannst. Wir knüpften an unser Gespräch über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit an. Da musste ich wohl so etwas gesagt haben, wie: "Eine Beschreibung sagt zumindest so viel über den Betrachter aus wie über die Dinge seiner Anschauung." Dazu wusste sie ohne Zögern sogleich ein Beispiel zu nennen, woraufhin ich erst ganz verstehen konnte, wovon ich doch sprach: 

    Als sie nämlich einmal im Zoo vor der großen Voliere stand, in der riesige Raubvögel, Geier und Kondore sich um das Fressen stritten - das muss einen gewaltigen Eindruck gemacht haben - sah sie ein kleines Kind neben sich, das die Hand in Richtung des Bodens ausstreckte und entzückt von sich stieß: "Oh, ein Spatz!" Darüber zeigte sich Sanny auch nach so viel Zeit so gerührt, als wäre die Szene eben erst geschehen: "Der kleine, unscheinbare Spatz war ihm so viel mehr Beachtung wert, vielleicht weil dieser frei war, weil er im Gegensatz zu den eingesperrten Attraktionen da sein wollte, wo das Kind ihn sehen konnte." 

    Den meisten Menschen wäre diese kleine Szene am Rande einer enormen Schau nicht aufgefallen oder sie hätten es bald wieder vergessen. Doch Sanny hat sich den Geist bewahrt, so viel Bedeutsames hinter dem Unscheinbaren zu sehen! Wie ich auf den Lippen hatte, ihr zu danken, dass sie mir ermögliche, den Gehalt in den Formen zu erkennen, in welchen sich mein Denken bildet, zeigte sie sich gerührt, dass ich ihr helfe, Ordnung in ihrem Erkennen zu finden.
  22. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    wenn die Ruhe der Nacht in meine Seele einkehrt, wenn es so still ist, dass ich meinen Herzschlag hören kann wie eine ureigene Fühlung eines zu ahnenden Weltgeistes, müsste ich doch augenblicklich aufhören zu verlangen. Doch ihre Stimme erfüllt bald die Stille und mein ganzes Leben ist ihr zugedacht. Ich kann dies nicht einfach verklingen lassen. Ich muss sie sehen!
  23. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie die einfachsten Gedanken zuweilen die bedeutsamsten Ereignisse befördern! Gestern sprachen wir darüber, wie wenig man doch über seine Wirkung auf andere verfügen kann, wenn man sich in keine Rolle zwingen lässt. Dazu erklärte sie, dass ihr unvoreingenommenes Interesse für die Belange anderer nicht selten missverstanden werde und ihr daher manchmal der Gedanke komme, sie solle sich vielleicht mäßigen.

    Ich entgegnete ihr, dass man ihr wahres Wesen, das ich derart rasch so lieb gewonnen habe, doch nur verstehen könne, wenn sie es nicht hinter den Erwartungen anderer verberge. "Warum bist du so lieb?", fragte sie und ehe ich diesen Moment vergehen zu lassen bereit war, fügte sie nach: "Wenn du bei mir wärst, würde ich dir gerne beim Denken zusehen. Das könnte ich bestimmt stundenlang tun." In diesem Augenblick wollte ich nichts anderes, als bei ihr zu sein und musste die Gelegenheit ergreifen, sie an unser Versprechen zu erinnern, wir mögen einander einmal sehen. Dann gingen die Überlegungen so hin und her und um es kurz zu machen: Sie wird zu Ostern kommen!

    Und seither möchte ich den März überspringen. Oh, solches Glück kann man nicht verlangen. Fast bin ich nicht mehr wesenhaft. Eine Bitte bin ich und sie, sie hat mich erhört. In welchen Gesichtszügen sich wohl ihr Lachen ausdrückt? Ach, dass ich dies erleben darf! Dass ich es nicht schon jetzt erleben darf!
  24. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    noch blüht nichts, doch wie der Frühling bereits die Begehrlichkeiten der Natur umreißt, so ist auch mein Schicksal ganz in ihren Befindlichkeiten eingeschrieben. Ich bin der glücklichste Mensch, da ich einen Grund habe zu warten und ich bin der leidvollste Kummer selbst, da ich warte. Gerne wäre ich so anmaßend, ihre Ankunft eher einzufordern - ohne Recht, aber mit Liebe.

    Nur der Wald versteht mich. Überall raschelt es im Strauchwerk und ich bleibe stehen und sehe mich um, doch finde nur wieder mich, wie ich suche. Dann allerdings höre ich, wie der Wind sanft durch die Wipfel streift. Also schließe ich meine Augen und spüre den Frühling mir durch's Haar fahren und ich bin ein Baum, gleichsam der nächste Baum, der den Wind in sich aufnimmt, bald der ganze Wald, der all die unbändigen Regungen in ein geruhsames Ganzes fügt.
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