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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind

    Briefe
    Oh Babsi,
     
    dem geheimnisvollen Dunkeln eines Waldes sah ich mich zugeneigt, ganz in der Nähe meines Lagerplatzes. Je tiefer ich in den Wald hinein drang, umso mehr umfing mich eine tiefe Traurigkeit, ein Gefühl der Unvollständigkeit. Als hätte ich stets zu wenig gelebt und als könnte man mit etwas Glück erst dann befinden, man habe das Leben ausgeschöpft, wenn man den Tod vor Augen hat. Dann aber erinnerte ich mich an das Gefühl des wahren Lebens, an das unwirkliche Glück, das einem das Schicksal nur für einen einzigen Augenblick vergönnt und sogleich lichtete sich der Wald. Da sah ich also zwischen dem Blattwerk hindurch, durch das große Fenster und vom Grün der Wand eingerahmt - sie!
     
    Wie in der Abkehr von der Gegenwart streichelte sie die Katze, die sich auf dem Fensterbrett immer wieder in ihren Blick zu stehlen versuchte, während Sanny gedankenverloren in die Ferne blickte. Mir war, als blickte sie durch alle Träume hindurch zu mir. Ein Wetterleuchten künftiger Nostalgie fuhr mir durch die Seele und ehe ich mich versah, stand ich in ihrem Türrahmen. Gerade konnte ich sie noch in ihrer ganzen Schönheit sehen, woran sie umso mehr gewann, da sie nichts erwartet hatte und daher mit ganzem Ausdruck nur dem Leben an sich verbunden war, da schloss sich die Tür. Auch meine Beteuerung, ich wolle nur ein paar Worte da lassen, konnte sie nicht zur Umkehr bewegen. Zwar wusste ich nicht, was ich gesagt hätte, doch ist mir gewiss, dass sie im Angesicht der Wahrheit wieder zu ihrer wahren Empfindung gefunden hätte. Je länger sie jedoch schwieg, desto aussichtsloser wurde dies. Und umso dringender musste ich sie sehen. Alles lief also darauf hinaus, dass Ablehnung die Nähe verhindert, die diese Ablehnung durchbrochen hätte. Mit einem Male empfand ich wieder all den Schmerz einer Welt, die sich selbst nicht genügen kann und der ich mithin mein Leben nicht anvertraut hätte, wäre mir die Wahl gewesen.
     
    Noch einige Zeit pochte ich an die Tür, erklärte mich, entschuldigte mich, flehte, setzte mich, stand wieder auf, ging auf dem Treppenabsatz hin und her und musste doch schließlich einsehen, dass ich vom Leben ausgesperrt bin.
  2. Schmuddelkind

    Briefe
    Liebe Babsi,
     
    ich möchte dich nur wissen lassen, dass ich mich wohl befinde und hoffe, dass es auch dir gut ergangen ist. Alle Habseligkeiten bin ich losgeworden und kann von Glück sprechen, dass es nicht so viele Dinge gibt, die meinen Tag bestimmen und von mir ablenken. Was ich zu Geld machen konnte, habe ich verkauft und alles andere unbesehen weggeworfen. Nur mein Zelt, eine Matratze, einen Schlafsack, ein paar Klamotten, einen Gaskocher und so viele Lebensmittel, wie ich tragen konnte, nahm ich mit. Und meine drei liebsten Gedichtbände. Soweit ich kann, versuche ich allerdings auch von diesen Dingen frei zu sein: ich sammle Pilze und Breitwegerich und erfahre das Essen immer mehr als etwas sinnhaft mit mir Verbundenes, denn als eine bloße Notwendigkeit.
     
    Aller Orten fand ich eine wohl aus den Augen verlorene Heimat und wollte doch sogleich weiterziehen in dem dämmernden Gespür, dass die Heimat meiner Seele größer ist als nur jener Ort. Im Spessart durchstreifte ich schmerzhafte Erinnerungen und übersah mein ganzes Leben von den Gipfeln. Und als meine Gedanken ganz weit hinter dem Horizont in der reinen Freude des Seins angekommen waren, die meine Kindheit bestimmten, fand ich mich plötzlich im Thüringer Wald wieder und es war wie der erste Herbsttag überhaupt. Alle Erwartungen fielen wie Laub ab und ich durchschritt die Täler wie die Ruhe, die durch alles drang. Als ich durch die kleinen Ortschaften Brandenburgs ging, die mit dem Wald so verwoben sind, dass mir die Grenze zwischen Natur und Kultur vor den Augen verschwamm, kam mir ein Lied über die Lippen, das wohl in den dunklen Fließen geschlummert hatte, da Wehmut, Melancholie und Zuversicht sich in dieser Melodie zu einer gemeinsamen Empfindung auflösten. Da ahnte ich wohl, dass mein Weg mich noch nach Berlin führen würde.
     
    Die Stadt meiner glücklichsten Tage betretend, wähnte ich mich endlich angekommen. Noch weiß ich nicht, was ich hier soll. Doch ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum ich hier bin. Das spüre ich sehr klar.
  3. Schmuddelkind

    Briefe
    Ja,
     
    stur bin ich! Wieso also beharrst du so darauf, mich aufzunehmen? Genügt es dir
    nicht, meine Sturheit aus der Ferne zu ertragen? Mein Entschluss steht: ich werde
    irgendwohin gehen. Ich weiß noch nicht, wohin. Doch gehen muss ich und da wird
    sich der Weg von selbst ergeben. Ich werde also zumindest eine ganze Weile nicht
    erreichbar sein, aber wenn wir uns eines Tages wiedersehen sollten, dann weil ich
    dazu bereit bin, dir in die Arme zu fallen. Dann werden wir genügend Gelegenheit
    haben zu scherzen und zu lachen. Bis dahin aber muss ich... ich weiß nicht, wie ich
    es anders sagen soll - nebensächlich werden.

    Ich weiß, du hast genug Anstand, mir nicht vorzuwerfen, ich hätte mir das alles selbst
    zuzuschreiben. Gewiss, das sollte ich. Aber was bedeutet schließlich dieses Selbst?
    Es ist auch nicht mehr als die Gesamtheit der Erfahrungen entlang eines
    ungeordneten Hergangs, den man Leben nennt. Und wenn wir fühlen, dass wir
    getrieben sind, so ist uns dies zuwider und wir suchen in den Wirren unserer Seele
    ein Muster und nennen dies Willen. Wer dieses Muster nicht findet, gilt als schwach,
    als verdorben oder verrückt. Was aber - und vielleicht hat dies alles, was ich mir
    vorzuwerfen habe, darin ihren Zweck - wenn es einfach hinzunehmen sei? Wenn wir
    nicht die Bürde spüren, hinter all den Widersprüchen Bedeutung finden zu müssen
    und stattdessen das Sinnwidrige in uns als Teil unseres Selbst annehmen - ist dies
    dann Glück? Ich glaube, dies muss ich erst für mich herausfinden.
     
    Leb wohl!
  4. Schmuddelkind

    Briefe
    Danke Babsi,
     
    tausend Dank! Doch ich kann ein Angebot nicht annehmen, das du bereuen wirst. Ich weiß, ein Mensch braucht einen Platz, wo er sein kann, aber ich kann meine Gesellschaft kaum jemandem zumuten, schon gar nicht dir, die du mir so viel wert bist.
  5. Schmuddelkind

    Briefe
    Liebe Babsi,
     
    bin ich denn schon so wenig Teil meiner selbst, dass ich die Regungen nicht aufbringen kann, gegen die sich niemand wehren könnte, der ihrem Grunde erliegt? Es war nur eine Frage der Zeit, aber die Zeit erscheint mir verstorben: bis Ende der nächsten Woche muss ich meine Wohnung geräumt haben. Ich sollte mich schämen, aber ich wundere mich nur.
  6. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    verzeih mir, dass ich so selten schreibe! Mir fehlt selbst hierzu meist die Kraft. Ich wage kaum einen Schritt nach draußen, habe schon seit Wochen die Sonne nicht gesehen. Doch mir fehlt sie nicht, ebensowenig wie der August, von dessen Gegenwärtigkeit ich ohne deine hübsch beschmückten Ausführungen nichts gewusst hätte oder die Heimat, die du mir ans Herz legtest. Nein, dieses Herz ist sich selbst genug und es ist der Verschlossenheit vielmehr zugetan als der gefahrvollen Schönheit.
     
    Die Heimat ist eine Erinnerung daran, dass wir von irgendwoher kommen. Daran möchte aber gewiss nur der erinnert werden, der weiß, dass er irgendwo hin will. Darum verstehst du sicher, dass ich dich in nächster Zeit nicht besuchen werde, obgleich mir dein Wort das Klarste und Sinnhafteste ist, das ich zwischen all dem stummen Tumult erkennen kann. Ein Gefühl des Unerwünscht-Seins verbindet sich mit jedem Erleben. Da ist es erträglicher, mich auf Unwesentliches zu beschränken. Wenn diese vier Wände die Grenzen meiner Welt bilden, dann ist die Einsamkeit doch nur der Preis für die Autonomie.
  7. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    zu dem Punkte des Selbsterkennens und der daraus zu schöpfenden Kraft, Vergangenes zu überwinden und neue Liebe zu finden, möchte ich dir etwas sagen: es ist die Möglichkeit, nicht geliebt zu werden, die die Liebe kostbar macht und es ist die Möglichkeit, nicht geliebt zu werden, die mich in diesen flüchtigen Zeiten an der Möglichkeit der Liebe schlechthin zweifeln lässt. Und indem ich dies sage, verschwinde ich. Ich bin nichts ohne den Menschen, der mich versteht, wie ein Buch, das nicht gelesen wird - bedeutungslos und überflüssig, gleich wie ansprechend, wahrhaftig und schön der Inhalt sein möge, den es birgt.
     
    Doch ich muss dich fragen: wie kann man denn irgendeinem Menschen noch glauben, der in der intimstmöglichen leiblichen und in jeder Körperregung ausgedrückten empfundenen Nähe, mehr noch mit den, das größte Glück spiegelnden Augen als mit den sehnsüchtig verlangenden Lippen sagt: "Ich liebe dich"? Ja, vielleicht kann man dem Menschen glauben, der so etwas sagt, vielleicht kann man einigen Menschen so viel Ehrgefühl nicht absprechen, dass man ihnen diejenige aufrichtige Empfindung zugestehen muss, die solchen Wahn heraufbeschwört und was meine Sanny betrifft, so kann ich jedenfalls nichts Gegenteiliges sagen. Doch ist es dann nicht der geteilte Glaube an etwas, das man für sich geschaffen hat, um gemeinsam daran zu glauben? Kannst du mir zwei Menschen nennen, die unter der Liebe exakt das Gleiche verstehen? Und jede kleinste Unstimmigkeit in den Auffassungen, so unbedeutend sie zu Beginn sein mag, verdeutlicht mit der Zeit den Irrglauben vor dem Hintergrunde unveränderlicher, nicht weg zu glaubender Realitäten, so dass der geringste Zweifel an der Liebe des Anderen die eigene Liebe derart plötzlich, radikal und nachhaltig auslöscht, dass nur der größtmögliche Abstand zu dem einstmals intimsten Schatz den Frieden mit sich selbst wieder herstellen kann.
     
    Der größtmögliche Abstand - für mich kann es ihn nicht geben; denn ich liebe sie noch immer, ungeachtet all meiner Ausführungen. Nein, ich kann mich nicht überzeugen! Ich bin mit mir in Krieg und kann nicht eher Frieden finden, bis ausgefochten ist.
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    man könnte glauben, es sei gut, dass die Zeit vergeht. Du weißt, Babsi, was der Volksmund über die Zeit und die Wunden zu sagen weiß. Aber es ist Unsinn, der nur deshalb aller Orten zu hören ist, weil diejenigen, die unter unheilbaren Wunden leiden vor Schmerz und Resignation stumm geworden sind; in ähnlicher Weise verbreitet sich übrigens allerlei Unsinn in der Welt. Oft ist die Zeit in solchen Fällen eine zweite Wunde, da sie dem Gefühl der Unerträglichkeit das kalte Diktat, diese selbst zu ertragen zur Seite stellt. Dass ich das kostbarste Privileg verloren habe, kann ich jedenfalls, selbst wenn ich mich eines wunderlichen Tages nicht mehr daran erinnern sollte, in meiner unerfüllten Seele spüren.
     
    Manchmal versuche ich mich darüber hinweg zu trösten, indem ich mir in all den schönen Bildern einer dahin geschiedenen Seligkeit vergegenwärtige, dass ein erhabener Geist von mir Besitz ergriffen und eine einzigartige, nicht wiederholbare Entität sich nur mir allein offenbart hatte und dass es mich mit Dankbarkeit und Sinn erfüllen sollte. Doch wie ist es mit den Geistern? Wenn ich näher an mich heranfühle, dann weiß ich, dass selbst die wahrhaftigste, glücklichste Erscheinung, dass, nur um den Abstrakta zu entkommen, etwa das Genie eines Shakespeares, das seiner Zeit wie ein befreiender Atem die ganze Menschheit erfüllte, zu einer anderen Zeit wertlos sein muss.
  9. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    wie mir weder das Gefühl der Wachheit noch der Müdigkeit in meine Sinne gelangen will und ich dennoch aufstehe, um nicht liegen zu bleiben und zu Bett gehe, damit der Tag vorüber geht, als sei ich ein zum Tode Verurteilter, der jeden Abend einen Strich an die Zellenwand zeichnet, nur um zu sich selbst sagen zu können, er habe einen weiteren Tag hinter sich gebracht, wohl wissend, dass es lediglich ein Tag des stumpfen Wartens war, wie ich mich mit jedem Gedanken entmenschliche, indem ich mich zur bloßen Folge meines Daseins mache, wie ich mich erdulde und an der Duldung kranke! Dies alles hat viel Undeutliches und Widersinniges, wofür ich mich schäme.
     
    Und ist das Menschsein nicht gemeinhin Grund zur Scham? Dieses stete Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit im Wissen um die bloße Denkmöglichkeit eines reichen, erfüllten Lebens, das vor allen Ausschlägen eines wankelmütigen Schicksals wie ein großer karger Fels hervorsticht, mag denjenigen nicht berühren, der entweder aus Verderbtheit und Dekadenz diese Diskrepanz erträgt oder sie aus Einfältigkeit gar nicht sieht. Ach, wie sind sie zu beneiden, die schlichten Gemüter und die abgestumpften Zynisten, die Naturmenschen und die vollkommenen Bürger! Und je länger ich darüber nachdenke, umso ärger beneide ich die, die darüber keinen Gedanken verschwenden und umso mehr erschrecke ich vor mir selbst.
  10. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    es ist nun schon über eine Woche vergangen, seitdem ich sie angeschrieben habe und noch immer kein Wort von ihr. Doch ich kann es ihr nicht verdenken, nach all meinen verzweifelten Ausbrüchen in alle Richtungen, in denen doch auch ein Wunsch des Vergessens geäußert wurde. Ich schrieb ihr, dass es mir Leid tue, was ich darüber in der geistigen Getrübtheit meinte, erkundigte mich nach ihrer Großmutter und ließ erkennen, wie wichtig mir der Austausch mit ihr nach wie vor sei. Ihr Schweigen war ein heftiges Beben, das alles um mich herum und in mir erschütterte. Obgleich ich ahnte, dass ich ihr Ruhe hätte einräumen müssen, schrieb ich ihr noch einige Male, vergeblich, wie du dir sicher denken kannst. Wie kann ein Mensch die Freiheit eines Anderen ertragen, die ihm doch alles nimmt, was Freiheit erst wertvoll macht?
     
    Noch nie, seit wir uns kennen, habe ich derart lange ohne einen Gedanken von ihr überlebt. Überhaupt kann ich mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht den mindesten Kontakt hatten und die Möglichkeit eines Tages ohne sie - dies war eine in ihrer Selbstverständlichkeit nie gedachte Gewissheit - hätte mir absurd erscheinen müssen. Das Leben hat eine nie erdachte Seichtheit und die Zeit eine undurchdringliche Verschlossenheit. Mir ist, als habe man mir das Wesentliche genommen.
     
    Es ist die größte Ungerechtigkeit von allen, dass es keinen anderen Umgang unter den Menschen geben kann, als sie an ihren Worten und Taten zu messen, die doch so wenig von dem wahren Gefühl vermitteln, welches sich in unserer Unbeständigkeit nur schwerlich einfangen lässt.
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie ich mich fühle ist eine Frage, die voraussetzt, dass ich mich fühle. Jeder Atemzug ist ein Nachruf auf den Tod, den ich verpasste. Jedoch habe ich mich mit dem Leben abgefunden; besser gesagt: ich habe mich damit abgefunden, mich nicht damit abfinden zu können. Heute war ich für etwa drei Stunden in Wilhelmsbad und zu beobachten, wie die Enten sich um meine Brotkrumen stritten, verschaffte mir wohltuende Ablenkung. Dennoch, es ist nur Ablenkung! Es ist nur das, was die Welt sein könnte, wenn ich nicht wäre, wer ich bin.
     
    Vermutlich war die Szene daher so ansprechend, weil sie sich nicht um mich drehte, fast als gäbe es mich nicht. Da waren nur die Enten, ihr Hunger und das Brot. Könnte ich doch die Welt immerzu derart unbeteiligt betrachten! Dieser Tage bin ich stets im Mittelpunkt meiner Welt. Ich bin der unbedeutende Endzweck einer traurigen Welt und diese Bürde ist schwer zu tragen, doch noch schwerer abzulegen.
  12. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    atme auf! Dann kann es wenigstens jemand.
     
    Ich spürte das Pulsieren der kalten Klinge im Takt der Erlösung an meinem Hals, wissend, dass zwischen mir und dem ewigen Frieden nur dünne Haut lag und dass diese mir keinen Widerstand mehr darstellte. Mit einer Bewegung, so wusste ich, wäre es getan und dazu fehlte mir nichts. In verkürztem Sinne war ich bereits tot. Wieso lebe ich dann noch?
     
    An meinem Leben, so tat sich in mir die Gewissheit auf, ist mir nichts mehr gelegen und doch konnte ich es nicht zu Ende bringen, fast als ängstige mich die Vorstellung, etwas zu verpassen. Der gewisse Tod erschien mir, obgleich eine endgültige Erlösung, noch ärmer als das mir verhasste Leben. Ich will wissen, wie es ihr geht! Ich werde ihr wieder schreiben. Nun bin ich dazu verdammt, ein Leben zu leben, das mir nichts gilt und mein einziges Bestreben ist die Quelle meines ärgsten Leidens.
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    hab keine Angst! Ich weiß, was ich tue. Seit Wochen verdichten sich alle Gedanken und Empfindungen zu diesem Wunsch, der so kräftig mir aus allen Einfällen spricht, dass ich nichts anderes in Erwägung ziehen könnte. Sei also beruhigt! Ich tue nichts, was ich bereuen werde. Verzeih mir meinen Zynismus! Es ist nur so, dass ich kaum noch etwas ernst nehmen kann an diesem Leben, nicht einmal den Tod. Ja, ich bin entschlossen! So fest entschlossen, dass ich behaupten kann: ich bin bereits tot, spätestens wenn du diesen Brief zu Ende gelesen hast.
     
    Ich hoffe, du verstehst mich.
     
    An meiner Bibliothek darfst du dich als erste bedienen. Die Anderen sollen nehmen, was sie gebrauchen können. Sei bitte so lieb und bemühe dich um die Erfüllung meines letzten Wunsches! Mein Leib soll verbrannt werden! Die Asche soll in einer Urne aus hellem Lindenholz aufbewahrt werden, worin mein Gedicht "Ganz nah" in schönen Lettern eingeritzt sein soll:
     
    Ein heiterer Gedanke wäre ich so gerne,
    ein liebevolles Wort, nicht mehr,
    so dass ich, riefst du meinen Namen in die Ferne,
    ganz nah an deinen Lippen wär!
     
    Sorge bitte dafür, dass die Urne zu Sanny gelangt! Ich mache mir vor, auch nach meinem Tode bei ihr sein zu wollen. Eine Kontovollmacht zu diesem Zweck ist bereits auf dem Weg zu dir. Ich habe ein paar Rechnungen liegen lassen (keine Sorge - die werden nicht arm), damit noch etwas zu holen ist. Sollte es nicht ausreichen, bitte meine Mutter um eine Zugabe! Sie wird mir meinen letzten Wunsch nicht abschlagen wollen. Und sag ihr, dass es mir leid tut, was sie durch mich alles erleiden musste und dass ich mich schäme, nicht den Mut aufzubringen, es ihr selbst zu sagen. Ich wäre ihr gerne ein besserer Sohn gewesen.
     
    Dir, liebe Babsi, wäre ich gerne ein besserer und beständigerer Freund gewesen. Für all die Bekümmerung, die du mit mir teiltest fehlt mir der Trost, doch ich bin über alle Maßen dankbar für den Geist, aus welchem heraus du es tatest. In der Hoffnung scheide ich, dass sich dein Leben in sinnvollere und glücklichere Zusammenhänge fügt als meines und dass sich nicht der Schatten meiner Resignation über dich legt, wenn du zweifelst. Dass das Leben schön ist, soll dir mehr Trost sein, als mir es vergönnt war.
     
    Sei herzlichst umarmt!
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wenn du wüsstest, wie unbedeutend mir der Gedanke an Bedeutung und Sinn ist, du spartest dir hoffentlich die Mühe. Und mag das Leben auch schön sein, in dem Sinne, wie du es geschildert hast, dass es kein Leid gäbe, das als Grund hinreiche, auf so viel Schönheit zu verzichten, an der ich - da stimme ich dir seufzend zu - wie ein Künstler als Schöpfer und Bewunderer teilnahm, so kann ich dir nur erwidern: Welche Bedeutung hat die Aussicht auf Schönheit und Wonne im Augenblick des bewussten Scheiterns?
     
    Gestern Abend betrachtete ich eine knappe Stunde lang die Uhr in jeweiliger gelangweilter und nahezu selbstbestätigender Erwartung, dass der Sekundenzeiger sich rege, bis ich fast glaubte, ich brächte die Zeit voran. Selbst in dieser hochmütigen Selbsttäuschung konnte ich nur einen profanen, nichtssagenden Prozess darin erkennen, der doch allen Bedeutungen innewohnt. Und wenn ich mich schüttelte, um wieder zu Sinnen zu kommen und mir klar wurde, dass ich wie wir alle nur ein Betrachter dieses Prozesses bin, der doch allen unseren Betrachtungen und Handlungen zugrunde liegt... mir wurde in nie gekannter Klarheit deutlich, wie unwichtig doch alles ist. Die Dinge sind nur wichtig, weil wir ihnen einen Sinn geben und wir sind nur wichtig, weil wir die Dinge betrachten können. Ist es nicht ein idiotischer Zirkelschluss, der uns so lange am Leben hält und uns vielleicht glauben lässt, es sei mehr als das Warten auf den Tod?
     
  15. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich lebe noch, aber meine Tod, wenn ich atme. Ich dachte, mir täte der Abstand zu ihr gut. Aber nichts kann mir als Linderung gereichen, weder ihre Worte, noch ihr Schweigen, weder meine Ruhe, noch der nutzlose Versuch, etwas mit meiner Zeit anzufangen, weder der wehmütige Blick zurück, noch der hoffende Blick nach vorn, der doch mehr von meiner Verzweiflung preisgibt, weder Reue, noch Wut.
     
    Längst bin ich mutlos geworden, grundlos, ja beinahe gegenstandslos. In meiner Existenz kann ich nichts anderes mehr sehen, als die Suche nach einer Rechtfertigung derselben. Wird dann nicht bald die Suche auch hinfällig? Babsi, nenn mir einen Ort, zu dem ich gehen kann oder ein Gift, das ich trinken kann, um ich selbst zu sein!
     
  16. Schmuddelkind
    Nein Babsi,
     
    ich werde ihr nur noch einmal schreiben, um sie zu bitten, mir nicht mehr zu schreiben! Im Austausch mit ihr verliert sich jeglicher Bezug zu mir selbst. Alles steht im Schatten einer anmaßenden Erinnerung und so ist alles, was ich unter diesem Einfluss von mir gebe, eine dekadente Veräußerung meines Wesens.
     
  17. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    in mir reift der Wunsch, sie wiederzusehen. Es ist unmöglich und es ist töricht. Wenn ich vor ihr stünde, in der unendlichen Tiefe ihrer blauen Augen versänke und ganz in dem Raum einginge, der von ihrer warmen Stimme durchdrungen ist, wie könnte ich da auch nur einen Gedanken an die Seelenlosigkeit dieses Erlebnisses aushalten? Trotzdem drängt es mich danach wie ehedem.
     
  18. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie mir die Enge hier unerträglich wurde und mich die eigene Trägheit angeekelt hat, habe ich mich mit dem Mond nach draußen gewagt. In den Sternen fand ich gute Gesellschaft, als ich mich in die Weite der Mainwiesen fallen ließ. Mit einem Moment packte mich das Staunen: da strahlen die Sterne so hell und ich kann keinen näheren Sinn darin erkennen, als den, dass sie millionen Jahre später von mir betrachtet werden können. Dabei wissen sie gar nicht darum.
     
    Vielleicht ist die Natur der Dinge gar nicht so verschwiegen. Vielleicht braucht man nur mehr Zeit und Aufmerksamkeit, um ihren Geheimnissen einen Sinn zu entlocken. Es mag sein, dass sich im Leben nichts anderes zuträgt, als dass einem die Zeit davon läuft und man froh sein kann, ein paar dieser Geheimnisse zu entdecken und sich somit selbst nahe zu kommen. Durchaus erscheint das Leben dem einen als bedeutungsvoll, fordernd und erfüllend, dem anderen als sinnlos und leer. Das gibt mir zu denken: Ist das Leben nicht einfach das, was wir entdecken, während wir es tun und kann das nicht als Zweck des Seins genügen? Ist es etwa mehr als ein Selbstzweck, den wir erwarten?
     
    Ach, ich weiß nicht. Es ist vielleicht alles alberne Philosophie, die ich vor mir her trage, aber sie hat mir heute durch die Nacht geholfen. Weißt du, in der Nacht vermisse ich ihre Stimme am meisten.
     
  19. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    sie hat mir geschrieben. Ich kann ihre Worte voller Versöhnung und freundschaftlicher Verbundenheit nicht ertragen! Und doch habe ich jeden ihrer Buchstaben wie ein Gebet immer und immer wieder vor mir hergesagt und wie unter Fluch litt ich nicht bloß an den Worten, sondern an dem Glauben daran. Ich bin nicht mehr als ein lebendiger Widerspruch.
     
    "Ein guter Mensch" sei ich und immer wieder "ein guter Mensch". Und jedes Mal war es eine liebevolle Beleidigung und jedes Mal war es ein fürchterlicher Beweis der Nähe.
     
  20. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ob ich viel trinke? Ich komme über die Runden. Ganz gleich, was ich jetzt anfange, es kann mir nichts bringen, was über den Erhalt einer kurzen Perspektive hinausgeht. Dabei ist mir doch nichts ferner! Was ist das Leben denn anderes, als ein langsames Dahinsiechen? Und ist es nicht eine ungeheuerliche Frivolität, jemandem eine Perspektive zu geben? Alles ist eine nackte, unüberwindliche Notwendigkeit.
     
    Du hast gefragt, was denn wichtig sei und dabei deinen Vorwurf gut versteckt. Daher will ich dir eine Gegenfrage stellen: Ist es nicht so, dass die meisten Menschen die wichtigsten Dinge nebenbei tun?
     
  21. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie schwer sich nun alles über mich legt! Über "mich" - ach, was bedeutet das noch? Was soll das noch bedeuten, da mir mehr genommen wurde als gegeben? Ist es nicht ein merkwürdiger Umstand, dass ich wohl nicht in solch ein Elend sänke, hätte ich sie nie gekannt, obgleich ich doch, ob so oder so dasselbe bei mir hätte. Das weiß ich mit dem Verstande, doch kann es mit sonst nichts begreifen, da ich nicht derselbe bin, da ich nicht einmal das bin, was ich mit viel Fantasie in wachen Momenten von mir hätte erdenken können, um mich einen wertlosen Menschen zu schimpfen.
     
    Wie kann ein Mensch so wenig von sich selbst sein? Und wie kann er davon noch so klar wissen? Einem von beiden muss ich wohl Remedur verschaffen. Sag bitte noch niemandem davon! Mir wäre es unangenehm. Ich kann sie doch alle schon spotten hören und ich weiß, dass sie es nicht böse meinen und in ihrem Unbegriff dessen, was wichtig ist, überzeugt sind, mir Gutes zu tun, aber ich könnte es nicht ertragen.
     
  22. Schmuddelkind
    "Allahu akbar", weckte mich die körnige Lautsprecherstimme vom Minarett der nahe gelegenen Moschee am nächsten Morgen. Selten hat sich Schlaf so gut angefühlt. Wie es meine Art ist, erkundete ich als erstes die Gegend. Die anderen beiden konnte ich dafür begeistern, mich zu begleiten. Durch einen engen, von Palmen gesäumten Pfad kamen wir in den Ort, von wo wir die Straße Richtung Strand entlang gingen. Auf dem Weg sprach mich der Stand eines Kokoshändlers an. Dieser steckte einen Strohhalm in die Nuss, gab sie uns zu trinken und schnitt sie anschließend in einige Stücke, die wir auf dem Weg verzehrten.

    Die touristisch orientierte Strandpromenade, auf der sich zu unserer Rechten Restaurants, Bars, Internetcaés und Ayurveda-Massage-Praxen aneinander reihten, gewährte zu unserer Linken einen freien Blick auf den etwas unruhigen indischen Ozean. Über eine Treppe, die in die feuerrote Felsenwand geschlagen war, die von der Promenade abfiel, gelangten wir zum Strand. Obwohl Inder in aller Regel nicht öffentlich baden (oft gar nicht schwimmen können), waren einige indische Familien zwischen den Touristen zu finden, da sie aus der bereits morgens so drückenden Schwüle geflohen, ein Picknick an der frischen Meeresluft bevorzugten. Nachdem wir uns ein paar Minuten im Wasser abgekühlt hatten, zog ich mir den ersten und einzigen Sonnenbrand meines Lebens zu (nein, die Sonne über Indien ist gewiss nicht mit der italienischen Sonne vergleichbar).

    Es zog uns nun zum Ortskern, wo Rikschas sich zwischen den Fußgängermassen hindurch drängten und den allgegenwärtigen rötlich-braunen Sand aufwirbelten. Varkala ist keine große Stadt. Der halbe Ort musste sich also auf den wenigen Sträßchen versammelt haben, die im Schatten bunter Wohnhäuser zu dem besandeten Platz vor dem Tempel zusammen trafen. Allerlei unterschiedliche Leute: unter den Bäumen auf dem Tempelplatz stand in seinem orangefarbenen Gewand ein Bettelmönch mit stoischer Ruhe, dem wir ein paar Rupien gaben. Exil-Tibeter gingen mit einer Kasse umher. Ein Sikh ging mit einem Moslem, ganz im Gespräch vertieft, so dass er beinahe mit einem Jungen zusammenstieß, der mit seinen Freunden Fangen spielte und daher aus einer kleinen Gasse zwischen zwei Häusern hervor huschte, in der sich ein Rinnsal gebildet hatte. Hier und da gab es Stände, um die herum, angelockt durch die Rufe der Händler, viele Passanten standen. Und ständig gingen Menschen in den Tempel ein und aus.

    Wir befanden, dass es Zeit war, zu Mittag zu essen und betraten eines der älteren Wohnhäuser am Platz. Hinab in einen grauen Keller, vorbei an der Küche, die ungewöhnlich einsehbar war und in der in aller Geruhsamkeit gekocht wurde (wir gehörten zu den ersten Gästen des Tages), nahmen wir auf einer Terasse hinter dem Haus Platz. Von dort erstreckte sich ein etwas größeres, rechteckiges Wasserbecken, in welchem ein paar Frauen ihre Wäsche wuschen. Es waren keine Speisekarten zu finden. Stattdessen gab der Kellner uns zwei vegetarische Gerichte zur Auswahl. Mein Leibgericht war zum Glück darunter: Palak Paneer, also Spinat mit weichem Rahmkäse. Ein Wort zu indischem Essen: durch die reichhaltige Beimischung von Gewürzen ist es wirklich lecker (wohl das beste Essen, das ich kenne), aber auch sehr scharf. Zu jedem Gericht bekommt man so viel Reis und Fladenbrot wie man benötigt und in der Regel ist die Bedienung sehr aufmerksam und füllt ungefragt auf. Man isst, indem man ein Stück Brot mit der reinen, also rechten Hand (mit der linken sollte man das Essen gar nicht berühren, da diese zur Reinigung nach dem Toilettengang gebraucht wird) abreißt und damit Reis und Gemüse aufnimmt. Es gibt also kein Besteck.

    Wir verbrachten noch ein paar Tage in Varkala, bevor wir weiter zogen. Vor allem zwei Dinge sind mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben:
    1. Ich habe die erste goldene Regel für Indien-Urlauber gelernt: Bestelle niemals in Indien eine Pizza! Die Freundin meiner Freundin hat es am doch recht touristisch ausgerichteten Strand-Restaurant ausprobiert und bekam ein Chapati (Fladenbrot) mit Ketchup.
    2. Wir sind auf Elefanten am Strand entlang geritten. Die Elefantenhaut ist rau und mit borstigen Haaren gespickt, was besonders unangenehm ist, wenn man Sonnenbrand an den Beinen hat. Außerdem ist es eine äußerst wackelige Angelegenheit. Aber ein außergewöhnliches Erlebnis ist es allemal, zumal es uns vergönnt war, in der Ferne Delphine zu beobachten.
  23. Schmuddelkind
    Ich gehöre zu den Menschen, die nicht im Flugzeug oder Bus schlafen können. Dementsprechend müde war ich von dem langen Flug von Frankfurt über London nach Bangalore. So müde, dass ich nicht verstanden habe, was der indische Polizist in der braunen Uniform von mir wollte, der mich direkt nach der Gepäckkontrolle ansprach - ich muss vorwegschicken, dass ich nie einen rechten Zugang zu dem Englisch mit indischem Akzent fand. Ich hatte bereits vorher aufgrund der Schilderungen des Indien-erfahrenen Vaters meiner Freundin gewusst, dass die indischen Behörden bei Europäern gerne überkorrekt sind, um den Eindruck einer fortschrittlichen, durchorganisierten Bürokratie zu erwecken. Also gab ich ihm alle Papiere, die ich bei mir hatte und auch wenn ich nicht erfahren konnte, worum es eigentlich ging, hat er mich nach kurzer Durchsicht durchgewunken. Zu allererst habe ich den ersten Reisescheck eingelöst; denn ohne Geld geht auch in Indien nichts und mit Geld kommt man sehr weit.

    Ein paar Schritte und dann war es endlich so weit - der erste Atemzug in der indischen Nachtluft. Die Nacht erschien mir merkwürdig schwül und was ich im fahlen orangefarbenen Laternen-Licht von Bangalore erkennen konnte, erinnerte mich beklemmender Weise an Frankfurt: hohe Gebäude, breite Straßen, Dreck. Doch allzu lange blieb mir nicht, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen; denn sofort stürmten dutzende Männer auf mich zu, schrien wild durcheinander und kamen mir unangenehm nah. In all dem Wirrwarr konnte ich noch verstehen, dass sie mir helfen wollten, meinen Bestimmungsort zu finden. Ich gab zu verstehen, dass ich zum Inlandsflughafen musste und mit der größten Freundlichkeit erklärte man mir, dass der nur ein paar Meter um die Ecke liege. Ich gab dem Nächststehenden 50 Rupien (ein Euro und ein paar Gequetschte) und machte mich auf den Weg dorthin.

    Es war ein geradezu winziger Flughafen, in militärisch anmutendem Braun gehalten. Als ich auf der harten Metallbank wartete, wurde mir klar, dass ich es schwer haben würde, die vier Stunden bis zum Weiterflug ohne Schlaf auszuhalten - und schlafen wollte ich mit Bedacht auf mein Gepäck nicht. Daher kaufte ich mir am nächstbesten Stand ein undefinierbares Milchshake-ähnliches Kaffee-Getränk. Kurz darauf war es nicht mehr die Müdigkeit, die mich beschäftigte, sondern meine Gastral-Aktivität. "Schnell zur Toilette!", dachte ich, doch als ich da ankam, dachte ich nur "schnell wieder raus!" Ich muss wohl nicht ins Detail gehen, aber es war unschön. Also verbrachte ich die nächsten vier Stunden totmüde und mit Bauchschmerzen, gelangweilt auf einem öden, relativ einsamen Flughafen, bis ich endlich meinen Anschluss-Flug antreten konnte.

    Tatsächlich konnte ich während des Inland-Fluges sofort schlafen und wachte erst wieder mit flauem Magen auf, als das Flugzeug seine Landeschleife drehte. Sicherheitshalber kramte ich schon die Kotztüte hervor, während sich mein Sitznachbar, ein älterer Herr in feinem Dress als Thomas-Christ vorstellte (in Indien ist es durchaus nichts Unübliches das Gespräch direkt mit religiösen Fragen einzuleiten). Wir unterhielten uns also bis zur Landung (etwa eine halbe Stunde lang) über das Christentum, über den Hinduismus und wie die Hindus christliche Traditionen aufgreifen und umgekehrt, während meine Augen immer wieder in Richtung der weit ausgedehnten Kokospalmen-Wälder bei Trivandrum abschweiften, die mir eine Vorahnung von der ursprünglichen Schönheit der Natur Keralas gewährten. Es scheint in Südindien Sitte zu sein, dass man jungen Ausländern versichert, sie würden eines Tages zu bedeutenden Persönlichkeiten ihres Landes; anders kann ich es mir nicht erklären, dass der mir völlig fremde Mann sagte: "You will be President of Germany." Das war noch vor Wulff und Köhler, so dass ich es nicht als Beleidigung aufgefasst habe.

    Auf dem Boden Keralas angekommen, hielt ich Ausschau nach meiner Freundin und als ich sie vor dem Gebäude sah, das Meer im Hintergrund, wollte ich ihr am liebsten in die Arme fallen, hatten wir uns doch zwei Monate lang nicht gesehen. Doch das wird in Indien als unhöfliche Zur-Schau-Stellung von Intimität angesehen, so dass ich mich zurückhielt und ihr in etwa in der gleichen Weise die Hand gab wie ihrer Freundin. Wir stiegen sogleich in die wartende Rikscha, wo ich die angenehme Abkühlung genoss, die der Fahrtwind mir bot.
     
    In einer Rikscha sitzt man zu dritt sehr gedrängt auf der Bank in einer kleinen Kabine, die zu den Seiten hin offen ist. Ich hielt mich an meinem großen Rucksack fest, der zwischen meinen Beinen kaum Platz hatte. Der Fahrtwind wehte mir um die Ohren als Bote eines Abenteuers, auf das ich mich sehr freute; jedoch konnte ich davon nicht viel zeigen, da ich am liebsten den Kopf auf meinen Rucksack sackend eingeschlafen wäre. Doch die vielen neuen Eindrücke - die gewöhnungsbedürftige Fahrweise des Rikscha-Fahrers, wie er etwa zwei Rikschas, die nebeneinander fuhren auf dem sandigen Gelände links neben der holprigen Straße überholte, ein anderes Mal rechts über den Mittelstreifen überholte, zwischen einer Rikscha und einem entgegenkommenden LKW hindurch, die Kokospalmen rings umher, zwischen denen sich allerlei dichtes Strauchwerk und gelegentlich eine Familie in einer Hütte eingerichtet hatte, die vielen Ortschaften, die so zerfasert dem Wald eine weite Ausdehnung einräumten, dass ich nie wusste, ob ich mich in der Natur oder der Zivilisation befand, die Gesangs ähnlichen Rufe geschäftstüchtiger Händler - diese Eindrücke haben alle meine Sinne eingenommen, weswegen ich den teils fürsorglichen, teils neugerigen Fragen meiner Begleiterinnen nur dürftig nachkommen konnte. Wir benötigten etwas mehr als eine Stunde für die knapp 50 km nach Varkala - ein Tempo, an das ich mich noch gewöhnen sollte.

    Unser Hotel, ein hübsches blaues Haus im Kolonialstil, lag etwas abseits. Eine Kokospalme stand neben dem Pfad zum Eingang und dahinter erstreckte sich der Wald. Wir fanden uns gleich auf dem Balkon ein, der die beiden Zimmer miteinander verband, die wir bezogen. Da ich einen vorübergehenden Anflug von Wachheit erfuhr, fühlte ich mich konzentriert genug, zu reden und wir aßen die frischeste Mango und unterhielten uns, bis wir bei Sonnenuntergang (gegen 19 Uhr) unter unsere Moskito-Netze schlüpften.
  24. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich glaube, zu träumen, so schwärmerisch ist mir zumute! Nie weiß ich, ob ich nun glücklich sterben will oder ewig leben möchte, wenn ich sie um mich habe. Als sei das Leben mit einem kurzen Blick in ihre lachenden Augen getan, als sei nichts mehr zu tun, als die Arme in der Gewissheit eines tragenden, warmen Frühlingswindes weit auszustrecken, über den Belangen der Menschen schwebend, so einfach ist doch alles, wenn ich ihr im Wald verspielt hinterher jage, wie ich es getan habe. Querfeldein rannten wir wie Kinder durch die Brombeerbüsche, vorbei an der nicht eben seichten Senke, die ehemals ein Wasserlauf dort geschaffen haben muss, weniger von den Dingen an sich als vom schöpferischen Eindruck derer Bewegung aufnehmend und kamen am Waldesrand zu stehen, überwältigt vom Anblick der olivgrünen Wiese, die sich zwischen uns und dem Hang in der Abendsonne zu weiten schien. "Oh, wie ist das schön!" meinte sie, im Gegenwärtigen vollkommen aufgegangen, während ich sie in meine Arme nahm. Jene Nacht verbrachten wir auf dem Bergener Hang auf einer Bank, abertausend Sterne über uns, die Lichter der Stadt unter uns, so dass wir nicht wussten, wo der Himmel aufhört.
     
    Es gibt Geschehnisse, da ist es beinah greifbar, dass unsere Handlungen bloße Hervorbringungen derselben sinnerfüllten Monade sind, etwa wenn sie meine Frage bejaht, ehe ich sie auch nur zur Hälfte aussprechen kann oder als ich auf die Trauerweide am Ufer des Sees just in dem Moment zuzurudern begann, als sie mir ins Ohr flüsterte: "Da wollen wir uns verstecken." oder als ich mich im Wilhelmsbader Schlosspark auf die Wiese warf in der fraglosen Gewissheit, sie würde ihren Kopf auf meine Brust legen und ich mich selten wichtiger gefühlt habe, als ihr als Kissen zu dienen. Und es gibt, ach... so viele Wunder an ihr, für die schlichte Dankbarkeit zu empfinden kaum auszureichen scheint, um mein angeregtes Gemüt zur Ruhe zu bringen... wenn ich Ausflugsziele aufzähle in der Hoffnung, etwas davon könnte sie ansprechen, worauf sie nur mit sanftem Wohlwollen reagiert: "Was immer du willst. Hauptsache, du nimmst mich mit!" oder wenn sie mit jedem Einfall, sich unversehens mit einer ganz anderen Sache zu beschäftigen, mich mühelos dafür begeistert, mit jedem unverhofften Kuss, den ich zart im Nacken spüre, wenn ich etwas lese, bis mir die Worte vor den Augen verschwimmen und ich nichts lieber tue als meinen Heine beiseite zu legen, überhaupt mit jeder Offenbarung ihrer plötzlichen Impulse ihriges dazu tut, damit wir beide im Zustande der völligen Hingabe für das wohlige Erleben dahin taumeln, so dass der Abschied wie ein überraschender Wetterumschlag über uns kommt.
     
    Doch bei all dem Vergnügen, muss ich eine Besorgnis erwähnen: So wie in dem Moment, bevor ich sie küsse, all meine Sinne nur dem gewissen, innigen Kuss zugeneigt sind und dem Augenblicke selbst dadurch seinen Zauber geben, ihn jedoch der Gegenwärtigkeit in der Lust auf das Kommende berauben, so geschieht alles, was wir teilen, jede zärtliche Berührung, jedes verständnisvolle Zublinzeln, jede vertraute Heiterkeit in der Erwartung einer noch tieferen Verbundenheit, als befände ich mich in einem Traum und wüsste davon und möchte aufwachen, um sie endlich mit meinen leiblichen Augen zu sehen, ihr wundervolles Wesen, von dem ich nur eine Ahnung haben kann, bei wachem Verstand tief im Inneren begreifen. Ich möchte ihr so nahe sein, dass ich mich durch ihren Herzschlag lebendig fühlen kann! Doch ist eine nähere Betrachtung denn wirklich einem tieferen Verstehen zuträglich? Ist der Wald nicht viel reicher durch seine herrliche Stille und das unplastische Grün, welches einem umgibt, als durch die kleinen Verästelungen, die man mit viel Mühe in den Blättern seiner Bäume genau beschreiben kann? Ich spüre, dass dies umso mehr für die Betrachtung von geliebten Menschen gilt, doch in meinem fortdauernden Begehr, mich zum Ausdruck zu bringen, kann ich nicht anders, als sie zu fragen, woran sie denkt, wenn sie angestrengt ins Leere schaut oder was sie empfindet, wenn sie eine Sorge äußert. Ich will ihr nahe sein!

    Mir ist, Babsi, als stürze mich ihre unbefangene Seele ins Verderben, als sei Liebe mein Verhängnis. Die Liebe, dieses banale Rätsel - schon so oft in tausenden Jahren wiederholt, aber so neu, dass mir mein Verstand und aller Gelehrten Meinungen wertlos sind, wenn ich im Kummer an sie denke, wie nur ich an sie denken kann, wie ich nur an sie denken kann.
     
    Verzeih, du wirst in meiner Rede kaum mehr als die Niedergeschlagenheit eines wirren Mannes erkennen können und ich sollte dir mehr darüber schreiben, wenn ich nur nicht mit jedem Gedanken daran bitterlich weinen müsste. Verzeih!
     
  25. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    wenn ich ein wenig bedachter gewesen wäre oder wenn sie nachsichtiger gewesen wäre oder diese schlimmen Umstände an einem anderen Tag... ach, was nützt es? Es sind bloß Bedingungen zum Erhalt einer Einbildung, die mein ganzes Denken vergiftet und doch meinen Verstand vor dem Darben bewahrt. Oh, hätte ich nicht alles wissen, alles mitempfinden wollen, als sie mir erzählte, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Großmutter drastisch verschlechterte, hätte ich vielleicht kaum mehr daran teilgenommen als an dem Geschwätz, das die Nachbarn hier über mich und meine "seltsamen" Fußwege, die ich mir täglich aussuche, meine "verlorenen" Gesten und meine Sprache wechseln, dann wäre ich nicht ich selbst, aber glücklich - vielleicht kann man meine Geschichte in diesem Sinne begreifen. Du verstehst mich.
     
    Dass man sich oft einbildet, der Mensch sei von edler Natur, ist mir schon immer als merkwürdige Torheit erschienen, wenn nicht gar als Lüge; denn wie häufig empfindet der Mensch das eigene Sein als so armselig, dass er sich nach simplerer Existenz sehnt? Wenn etwa bei schönem Wetter allerhand Schreibarbeit zu erledigen ist und man nicht in heiterer Selbstgenügsamkeit den warmen Lockungen nachgeben kann wie die Bienen. Es scheint mir fast, als leide der Mensch an seiner Komplexität, an seinem Denken, an seinem Zweifeln, an Worten wie "mein", "dein", "Freiheit" und "Pflicht". Mich überkommt die Sehnsucht, meine Sprache zu verlieren.
     
    Was soll es... ich schweife ab. All meine Aufmerksamkeit galt ihrem Innersten; ich wollte es verstehen, wollte sehen, was dies mit ihr macht. Ich konnte nicht anders, als sie danach zu fragen und sie konnte nicht anders, als sich in ihrer Aufregung davor zu fürchten. Sie hatte Angst davor, ich wolle ihre Gefühle ordnen, denn, so meinte sie, dem natürlichen Chaos eine menschliche Ordnung zu geben, sei unangebracht und außerdem nicht zweckdienlich. Ich verstand ihr Argument und muss es ihr wohl eingestehen und dennoch - ich musste meinem Begehr nach Nähe Ausdruck verleihen.
     
    Ich... ich jagte der Nähe nach, die sich mir umso mehr entzog, je bedürftiger ich danach drängte, bis es nichts mehr zu sagen gab, weil nichts mehr zurückgenommen werden konnte. Nichts weiß ich mehr von dem, was mein Wesen bis vor kurzem ausmachte.
     
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