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Lamento dell’Anoressia - Das zweite Kapitel


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Lamento dell’Anoressia

Kapitel 2

 

Mittwoch; 20.07.2022

Via Romagnosi; Mailand

 

„Wir schicken einen

Rettungswagen zu Ihnen.

Bitte verlassen Sie Ihren Standort

nicht“, sagte der Mitarbeiter der

Leitstelle und legte den Anruf auf.

 

„Das werde ich definitiv nicht

machen“, murmelte der Anrufer

niedergeschlagen und ließ sein Handy

in seiner Jeans verschwinden.

 

Er drehte sich seufzend um und

schlug mit seiner Faust gegen die

Motorhaube.

 

In diesem Moment öffnete sich

die Restauranttür und Leanora

stürmte aus dem Lokal.

 

„Papa!“, schrie sie.

Sie hatte den Unfall als einzige von

den Gästen gesehen, da sie in diesem

Moment, als ihr Vater angefahren

wurde, aus dem Fenster sah.

 

„Papa!“, schrie sie nochmal und

kniete sich zu Salvatore.

„Es… es tut mir schrecklich leid“,

stammelte der BMW-Fahrer und

wischte sich die Tränen aus

den Augen.

 

„Das… das war unbeabsichtigt,

ehrlich.“

Doch Leanora beachtete den

Mann ihn nicht.

 

„Halte durch, Papa!“, flüsterte sie

ihm in Ohr und drückte seinen Kopf

an ihren Körper.

 

Ihre Augen fühlten sich mit Tränen.

„Du darfst nicht sterben, Papa, bitte.

Du darfst jetzt nicht sterben.“

 

„Leanora“, wisperte ihr Vater mit

schwacher Stimme und erbrach sein

eigenes Blut.

 

„Es tut mir leid, dass dieser Tag

so endet.

Pass‘ bitte auf Mama und Catarina

auf.

 

Und vergiss‘ nicht, werde immer

für euch da sein, auch wenn ihr mich

nicht sehen werdet.“

 

„NEIN!“, kreischte Leanora und

strich ihrem sterbenden Vater

durchs Haar.

 

Sie hörte, wie er krampfhaft nach

Luft ringte und voller Schmerzen

seinen letzten Atemzug machte.

 

Sein gebrochener Brustkorb, der

sich nicht mehr hob, fiel in sich

zusammen.

 

Und seine erstarrte und eisige Miene

legte sich über sein Gesicht wie

eine Totenmaske.

 

Leanora presste den toten Körper

ihres Vaters fest an ihre Brust.

 

„WARUM? WARUM NUR?“,

schrie sie hysterisch und brach

unweigerlich in Tränen aus.

 

Der Mann hinter ihr keuchte

erneut.

Diesmal aber lauter als zuvor.

 

Die Tochter erhob sich und lief

verzagt wieder ins Restaurant.

 

Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre

weiße Jeans blutbefleckt war.

 

„Wo ist Salvatore?“, fragte Smeralda

und lächelte, wobei ihr Lächeln

augenblicklich in Entsetzen umschlug,

als sie Leanoras blutige Kleidung sah.

 

„Er ist tot… Wir können nichts mehr

für ihn tun“, antwortete Leanora und

ließ sich kraftlos auf einen Stuhl fallen.

 

„Tot?“

 

„Er wurde von einem Auto

erfasst und so schwer verletzt, dass er

soeben in meinen Armen erlag.“

 

Die Stille, die danach folgte, war

die lauteste, die die Gäste jemals in

ihrem Leben hörten.

 

Alle Beteiligten schauten sich zwar

gegenseitig an, konnten aber kein

Wort über die Lippen bringen.

 

So sehr stark war der Schock,

der ihren Körper lähmte.

Zu nah war der Tod, den

man fühlen konnte.

 

Es mussten weitere fünf oder

sechs Minuten vergangen sein als

der gerufene Krankenwagen der

Emergenza sanitaria in die

Via Romagnosi einfuhr.

 

Smeralda, deren smaragdgrünen

Augen rot angeschwollen waren,

schaffte es als erstes sich zu beruhigen

und die Schockstarre zu überwinden.

 

Sie stand auf und verließ zitternd

die Gaststätte, Leanora tat es ihr gleich.

 

Wobei  Casimira und Valentiano es

nicht schafften aufzustehen, da der

Schock sie gelähmt hatte.

 

Als die plötzliche Witwe ihren auf

der Straßen liegenden Ehemann

zwischen den Sanitätern sah,

die fieberhaft mit seiner Reanimation

beschäftigt waren, brach sie wieder

in Tränen aus.

 

An diesem Tag starb nicht nur ihr

Mann, sondern auch ihr Herz.

Es verblutete, genauso wie

Salvatore.

 

Sie schloss ihre Augenlider und

seufzte, wobei sie das Gefühl hatte,

dass sie am Ersticken war.

 

Ein Sanitäter, der mit dem Protokoll

beschäftigt war, bemerkte die

weinende Mutter und lief zu ihr.

 

„Sie müssen also Salvatore Di

Marcos Ehefrau sein.“

 

Smeralda nickte stumm und

umarmte ihre Tochter, die neben

ihr stand.

 

„Seine Verletzungen waren so

schwer, dass er noch vor Ort

verstarb.

 

Eine Wiederbelebung ist leider

nicht mehr möglich.

Es tut mir leid.“

 

Inzwischen wurde Salvatores

Leichnam auf Trage gelegt und

mit einem weißen Leichentuch

bedeckt.

 

Auch erschien die Polizia di

Stato am Unglücksort und versuchte

den Unfallhergang zu rekonstruieren,

wobei das nur bedingt möglich war,

da der Autofahrer mittelschwere

Gedächtnislücken aufwies,

was für die Beamten nicht

besonders sachdienlich war.    

 

„Ich wollte es nicht“, schluchzte er

und wischte sich die Tränen

aus den Augen.

 

„Ich weiß“, entgegnete die Polizistin.

 

„Trotzdem würde ich Sie bitten

mit aufs Revier zu kommen, damit

Sie sich dort ausruhen und etwas

essen können.“

 

„Was ist mit einer präzisieren

Aussage?“

 

„Diese muss warten, denn zuerst

müssen Sie sich vom

Schock erholen.“

 

„Verstehe.“

 

„Wenn Sie mir jetzt folgen würden“,

sagte die Polizisten und brachte

den geschockten Mann zu ihrem

Dienstwagen, in den er sich kraftlos

fallen ließ.

 

Die Polizisten stieg ein und startete

kurzerhand den Motor, der aufzischte

und zum Leben erwachte.

 

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel

und fuhr langsam aus der engen Straße

heraus und verschwand auf der

Via Alessandro Manzoni, die in die

Via Romagnosi mündet.

 

Auch die Sanitäter bestiegen ihren

Rettungswagen und fielen

niedergeschlagen auf ihre Sitze.

 

Nach einigen Minuten fuhren auch

sie los und brachten den Verunglückten

in das Instituto di Medicina Legale e

delle Assicurazioni, wo sie Salvatore

dann den Rechtsmedizinern überließen.

    

Nur die Di Marcos standen auf dem

Gehweg und schauten betrübt auf

den verlassenen BMW, welcher zu

einem unfreiwilligen Mahnmal geworden

ist, wobei die Botschaft für alle

Beteiligten klar war:

Und wenn du dich nicht selbst

beachtest, dann wird niemand

dich beachten…     

 

Der Himmel hatte währenddessen

eine dunkelschwarze Farbe

angenommen

– Derzeitig war es bereits schon

weit nach 22 Uhr.

 

Die Mailänder Lichter, die zum Teil

aus Straßenlaternen aber auch aus

edelgashaltigen Leuchtreklamen bestanden,

versuchten mit einer gewissen Mühe

den bedrohlichen Himmel zu überwiegen

und die melancholische Stimmung

schlicht zu vertreiben.

 

Smeralda und Leanora betraten wieder

das ausgestorbene Restaurant und fielen

kraftlos auf ihre Stühle.

 

Casimira und Valentiano bemerkten

nicht, dass sich die beiden wieder zu

ihnen gesellten, so sehr setzte ihnen

der Schock über den plötzlichen

aber auch vermeidbaren Tod ihres

Schwiegersohns zu.

 

„Es wäre für alle besser, wenn wir jetzt

nach Hause fahren würden.

Der Schock liegt uns allen auf der

Seele, daher wäre es besser, wenn

wir uns beruhigen und versuchen

etwas zu schlafen.

Morgen sehen wir dann weiter“,

flüsterte Smeralda.

 

Ihre Mutter, die ihren Kopf mit der

Hand abstützte und die ganze Zeit

starr auf die weiße Tischdecke schaute,

und Smeraldas Vater, der in derselben

Position verharrte, richteten sich auf

und blickte in das Gesicht ihrer Tochter.

 

„Du hast recht, Smeralda.

Morgen sehen wir weiter“, entgegnete

ihr Vater und versuchte sich von seinem

Stuhl zu erheben, schaffte es aber nicht,

da seine scheinbar gelähmt waren.

 

Seine Tochter bemerkte die Hilflosigkeit,

der ihr Vater ausgeliefert war, sodass sie

sich erhob und ihrem Vater beim Aufstehen

half.

 

In diesem Moment als ihr Vater wieder

auf seinen Beinen stand und sich mit

seinen Händen am Stuhl abstützte,

wurde die Lokaltür aufgerissen und

Salvatores Eltern betraten das

Restaurant, Leanoras Schwester

folgte den beiden.

 

„Was sitzt ihr so trübselig da?

Wo ist Salvatore, mein  Junge?“,

fragte Fernando Ventura lachend

und befreite sich aus seiner Jacke.

 

„Wo ist die Party und wo ist

die Freude? Ach, Mensch, ist die Feier

wirklich so traurig?“

 

„Es gibt keine Feier.“

 

„Bitte?“, entfuhr Fernando verdutzt,

sodass sein Lächeln aus seinem

Gesicht wohlkommen verschwand.

 

„Er ist… tot.“

 


Berlin; 08.01.2023

 

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