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Was ungesagt blieb


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Was ungesagt blieb

 

Wir hatten Zartheit mit Schwäche verwechselt. Und wir dachten uns: Was schwach ist, muss stark gemacht werden, gegen die Kälte und die Dunkelheit. Dabei hat ein weiser Mensch einmal gesagt: Gegen die Wärme eines Herzens vermag selbst die Kälte der Welt nichts auszurichten. Wenn wir das bloß berücksichtigt hätten; uns eher erinnert hätten. Aber ich schwöre dir, mein Schatz, wir hatten nur dein Bestes im Auge, es war immer gut gemeint.

 

Zu spät erst habe ich begriffen, dass wir falsch gehandelt haben; dass wir dich verloren haben, an diesem Tag. Irgendwann habe ich es gesehen, in deinem Blick. Plötzlich war dort eine gewaltige Wut zusehen, die vorher nie zu ahnen gewesen war. Und kaum merktest du, dass ich etwas sah, war die Wut auch wieder weg, als wäre sie nie da gewesen. Und da wurde mir klar, dass diese Wut schon lange da gewesen sein muss, denn du warst so gut darin, sie zu verbergen. Zuerst dachte ich, du verbirgst sie aus Rücksicht zu mir; damit ich nicht merken muss, was ich dir angetan habe, wie sehr ich dich verletzt und weggestoßen habe. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass dem nicht so war, auch wenn ich nach wie vor glaubte und hoffte, dass du dazu in der Lage warst, mich zu lieben. Dein Grund war einfach der, dass du genug Leid gesehen hattest in deinem jungen Leben, dass du generell niemandem Leid zufügen wolltest - nicht einmal deiner verhassten Mutter.

 

Oh, mein Junge, wie sie mich damals getroffen hat, diese Erkenntnis. Nicht weil ich deine Mutter war, sondern obwohl ichdeine Mutter war, nahmst du Rücksicht. Erst da ist mir vieles klar geworden. Aber es war zu spät: Deine Schotten waren dicht, ich konnte nichts wiedergutmachen. Alles, was mir blieb, war zu hoffen, dass die Zeit auch deine Wunden heilen würde; dass du woanders Liebe finden würdest.

 

Ich habe nie erfahren, ob es so kam.

 

Heute stehe ich vor deinem Grab, mein Sohn, und frage mich: Hast du noch Liebe erfahren in deinem Leben? Diese Frage quält mich mehr als alles Andere. Warum hast du mir nie geschrieben, bevor du starbst? Dachtest du, es interessiert mich nicht? Habe ich deinen Glauben an mich so gründlich zerstört, damals?

 

Weißt du, manchmal glaube ich, diese quälenden Fragen sind die gerechte Strafe dafür, wie fehlbar ich war als Mutter. Auch wenn ich weiß, dass du nichts von Schuld hältst und noch weniger von Strafe - das hast du mir einmal gesagt, in einem unserer wenigen Gespräche nach deinem Auszug. Damals habe ich nicht richtig zugehört, nicht richtig verstanden. Aber heute, wo ich vor deinem Grab stehe, verstehe ich: Du wolltest mir Absolution erteilen. Dies war deine abstrakte Art, mir zu vergeben: Mir zu sagen, dass es nichts zu vergeben gibt, dass es lediglich tragische Umstände gibt.

 

Ich werde versuchen, diesen Gedanken zu verinnerlichen, an ihn zu glauben und eines Tages danach zu leben. Wer weiß, vielleicht wirst am Ende du derjenig sein, der mich stark gemacht hat gegen die Kälte der Welt.

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A. Akke,

 

bin auch Mutter und weiß, dass ich auch vieles falsch gemacht habe. Aber im nachhinein ist es eben nicht mehr zu ändern.

Versuche positiv in die Zukunft zu sehen (ist leichter gesagt als getan, das weiß ich).

Dann denke ich oft : "Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein".

 

Lieben Gruß

alterwein

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@Walther

Dankeschön

 

@alterwein.com

Erstmal danke für dein Mitgefühl. Allerdings ist das Lyrische Ich aus dem Text nicht mit mir gleichzusetzen. Aber natürlich beruht der Text auf Gedanken und Erlebnissen aus meinem Leben und ist insofern schon wahr - nur käme es mir falsch vor dein Mitgefühl unkommentiert mir gelten lassen.

Ich wünsche dir ebenfalls, dass es dir gelingen mag, positiv in die Zukunft zu sehen.

 

LG,

A. Akke

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