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1918 - 2018

Bum, Bum, Bum, Bum. Dieses ohrenbetäubende Geräusch drang unermüdlich und mit hoher Kadenz aus der gegenüberliegenden Stellung. Ich rückte meinen Helm zurecht und blickte vorsichtig über den Rand des Grabens dessen Beschaffenheit mir so fremd anmutete. Die Erde schien hier fast weiß und bestand zum größten Teil aus dem hellem Kreidegestein auf dem normalerweise die berühmten Champagner-Weinstöcke wurzeln. Aber mit tiefen Kratern, aufgeworfenen Hügeln und langgezogenen Gräben wirkte alles um uns herum wie eine verwüstete Mondlandschaft.
Wir waren erst heute morgen angekommen und wurden mit der Aufgabe betreut, uns vorwärts zu arbeiten, um auf die Stellung zu gelangen, die von den Franzosen gehalten wurde.
Etwa 200 Meter links von uns sahen wir das Lager eines polnischen Trupps, der mit schwerem Gerät angerückt war. Zu unserer Rechten ließen sich kleinere Einheiten ausmachen, denen allem Anschein nach, selbst Araber und Afrikaner angehörten.
Wir hatten gerade unsere Gaswarngeräte eingeschaltet, um mit einem Sprung aus unserem Graben zu schnellen, als wir bemerkten, dass die Franzosen mit ihren Kettenfahrzeugen auf uns zurollten. Mit unserer leichten Ausrüstung konnten wir diesen nichts entgegensetzen und duckten uns deshalb wieder in unsere Position, zumal wir sahen, dass von der anderen Seite her Feuerfunken zu uns herüberschossen. Wir befanden uns in großer Bedrängnis und beschlossen, in unserer Not alles zu wagen, um dieser brenzligen Situation zu entkommen.
Aller Gefahr zum Trotz stürmten wir deshalb aus unserem Graben, damit wir als erste zu einem weiter unten gelegenen Container gelangen konnten, in dem wichtige Vorräte lagerten. Doch auch von französischer Seite wurde zum Sturm geblasen und wir sahen auf einmal, dass sich alle Einheiten in Richtung der Kuhle bewegten, in der sich der Container befand. Wer die Szene von weitem beobachtete, musste um das Wohlergehen aller am Geschehen Beteiligten bangen, denn mit ihren Armen schienen sie ringerähnliche Positionen einzunehmen, um damit im Nahkampf ihren Gegner besiegen zu können.
Bei näherer Betrachtung aber sah man, dass sie sich nur zur Begrüßung umarmten.
Man schrieb das Jahr 2018 und hundert Jahre nach dem ersten Weltkrieg arbeiteten die ehemaligen Kriegsgegner und Erzfeinde gemeinsam am Bau einer friedvollen Zukunft.

Da war Andreas, der Leiter der Baustelle, der die komplizierten Arbeiten trotz seines französischen Wohnsitzes mit deutscher Spitzfindigkeit überwachte. Da war Maurice der Teamchef der französischen Tiefbaufirma, die dem Projekt mit ihren schweren Baumaschinen den Weg ebnete. Da war Marlise, die Elektrotechnik-Ingenieurin, deren akzentfreies Deutsch nicht ausreichte, ihre afrikanischen Wurzeln zu verbergen, welche nicht nur ihre Kräuselfrisur preisgab. Da war Tom, ihr gelassener norddeutscher Kollege, dem seine Herkunft ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand. Da war Mohammed, der tunesischstämmige französische Elektriker. Da war Janek, der polnische Teamleiter mit seiner Mannschaft, die dem Bauwerk, zeitweise unter dem Einsatz des Presslufthammers, sein tragendes Gerüst verlieh. Da war Markus, der ostdeutsche Teamchef der Installationsfirma, die sich mit ihren funkensprühenden Seitenschneidern um die Verrohrung der Anlage kümmerte. Da war Mike der amerikanische Braumeister, der sich auf die Kontrolle des Gärprozesses von Biogasanlagen spezialisiert hatte und da war, last but not least, seine Kollegin, die kleine Französin Marie, die mit ihren 25 Jahren, ihrer Willenskraft und ihrer Entschlossenheit ein bisschen einer Jeanne D'Arc glich, wenn sie sich trotz ihrer zierlichen Figur an das Umstellen der viel zu schweren Leitern wagte, um auf ihre Arbeitsplattformen zu kommen.

Sie alle waren am Bau dieser komplexen Biogasanlage beteiligt. Dank der Diversität ihrer Fähigkeiten und aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen, konnten sie sich mit ihrer Kooperation perfekt ergänzen. Indem sie Hand in Hand miteinander arbeiteten, erreichten sie zusammen, was niemand für sich allein hätte schaffen können.

Als die Getränkekisten aus dem Baucontainer geholt wurden, kam auch die Bauherrrin, die gleichzeitig Landwirtin war, mit einer verrosteten Munitionshülse und einer Flasche Champagner dazu.
Sie meinte solche Hülsen fände sie auch heute noch häufig beim Umpflügen ihrer Felder, auf denen vor hundert Jahren die grausamen Schlachten zu Ende gingen, bei denen unter dem Einsatz von Giftgas so viel Unheil angerichtet wurde.
Wir waren uns alle einig, dass hier künftig nur noch Korken knallen sollten und öffneten die Champagnerflasche, um mit unseren Pappbechern auf einen dauerhaften Frieden anzustoßen. Die leere Munitionshülse, die zwischenzeitlich nur noch als Blumenvase taugte, erinnerte uns dennoch an den hohen Preis, den die Völker bezahlt hatten, bevor sich diese Welt ihrer absurden Feindbilder entledigen konnte.

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Hallo Rudolf, ich finde klasse deine "Story".

Als ich schon etwas gelesen hatte, dachte ich, du schreibst absichtlich aus der Perspektive von damals. Ich war schon gespannt, welche Wendung Angriff und Gegenangriff nehmen würden, wirklich, und da kam deine Erklärung...

Gut, wirklich gut.

Liebe Grüße

Carlos

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Hallo Carlos,

 

für deinen Kommentar will ich dir zunächst einmal danken.

Die Vergangenheit habe ich der Gegenwart in dieser Geschichte, absichtlich gegenübergestellt, weil, besonders im von mir beschriebenen Bereich, bei genauen Hinsehen, wirklich sehr viele Ähnlichkeiten zwischen "damals" und "heute" bestehen. 

Seinerzeit fanden sich Menschen allen Ursprungs und aus aller Herren Länder auf den Schlachtfeldern Frankreichs, auf denen Millionen von Menschen in den Weltkriegen ihr Leben lassen mussten.

Dieser Tage wird auf den ehemaligen Kriegsschauplätzen mit internationalen Teams an der Zukunft Europas gebaut und somit mit dazu beigetragen, dass der Weltfrieden, den wir seit langem genießen und für selbstverständlich halten, weiterhin auf stabilen Fundamenten ruhen darf, damit Millionen von Menschen besser leben können.

Die schmerzlichen Erfahrungen lehrten uns im Laufe der Geschichte, dass es mehr Sinn macht unter umgekehrten Vorzeichen zu kämpfen, weil wir nur auf diese Weise einen Weltsieg für alle Völker erringen können.

Wo sich die ehemaligen Gegner früher mit Giftgas bekämpften, bedienen sie sich heute gemeinsam ihrer Intelligenz und ihres Verstandes, um aus Abfallprodukten positive Energie in Form von Biogas zu gewinnen.

Die "Story" will sich darüber hinaus auch als Hommage an die Männer und Frauen verstehen, die, mit ihrer körperlichen Anstrengung und ihrem Fachwissen täglich und oft fern ihrer Heimat unter schweren Bedingungen hart dafür arbeiten, dass die Poesie des Lebens ihre technologisch sinnvolle Ausdrucksform finden kann.

 

Liebe Grüße

Rudolf

 

 

 

 

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vor 20 Stunden schrieb Rudolf Junginger:

um aus dieser brenzligen Situation zu kommen.

 vielleicht zu entkommen? 

 

Lieber Rudolf,

ich stürze mich ja auf jede Geschichte von dir, und wieder hast du eine neue Sichtweise eingebaut ... man meint, schon wegen dem Titel, zu Beginn direkt eine Situation im Jahr 1918 zu erleben. Und schwupps : andere Perspektive und  du zeigst dem Leser die Sinnestäuschung. Sehr gelungen!!

Apropos Sinnestäuschung  - beim Besuch alter historischer Stätten, habe ich oft den Eindruck als würden die längst vergangenen Ereignisse wie eine kurz vor dem Sichtbarwerdende Fata Morgana hinter dem Jetzt flimmern.

 

Wichtig ist sie deine Geschichte, um zu sehen wie sich Geschichte ändert, zum Besseren. 

Nicht nur als Mahnmal der Greuel von einst und der sinnlosen Dummheit von Kriegen, sondern auch als Mahnmal der neuen Zeit, einer Zeit in der Menschen zusammenrücken, sich gegenseitig ergänzen, voneinander lernen und miteinander aufbauen.

In der die Qualitäten und die Qualifikationen einer Person entscheidend sind und nicht die Herkunft.

 

Ich freue mich über jede einzelne solcher Geschichten Gedichte Aussagen und in diesem Bereich bist du für mich wie ein Leuchtturm.

Dafür danke ich dir und wünsche dir ein schönes Wochenende

Sali

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Hallo Sali,

 

vielen Dank für deinen Kommentar und den Verbesserungsvorschlag. Dein "entkommen" habe ich dafür mit in die Geschichte gesperrt.

vor 11 Stunden schrieb SalSeda:

Wichtig ist sie deine Geschichte, um zu sehen wie sich Geschichte ändert, zum Besseren. 

Nicht nur als Mahnmal der Greuel von einst und der sinnlosen Dummheit von Kriegen, sondern auch als Mahnmal der neuen Zeit, einer Zeit in der Menschen zusammenrücken, sich gegenseitig ergänzen, voneinander lernen und miteinander aufbauen.

 

Ich finde es auch sehr wichtig, nicht immer nur auf die negativen Aspekte zu halten, die die Hauptkapitel des konfliktgeprägten Buchs der Weltgeschichte bilden. Unterm Strich muss es ja doch so sein, dass die Menschen eher gut miteinander können, wenn die Weltbevölkerung bisher immer mehr anwachsen durfte. Und diese unspektakulär schöne Seite des funktionierenden Miteinanders sollte zwischendurch ebenso ein wenig Beachtung finden. Mich faszinieren solche ruhigen und damit an sich langweiligen Themen, mehr als das Echo des lauten Säbelgerassels der Vergangenheit, mit dem man uns für die Zukunft aufstacheln will.

 

Auch dir einen schönen Rest vom Sonntagsfest.

 

Liebe Grüße

Rudolf

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