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Windflüstern

 

 

Ein wilder Wind spielt zwischen weiten Baumspitzen,

sein weißes Rauschen tost beim Auf- und Absteigen.

Er zupft von Ästen Blätter, tobt und kappt Zweigen

den Halt und so nun auch sich selbst beim Dasitzen.

Doch langsam wird sein Fallen zum Hinabgleiten,

als sich dem Wind des Waldes Wunder ausbreiten.

 

Dies ist kein Ort und keine Zeit für Windwüten.
Hier ruht auf ewigweichem Moos das Urleben
und feiste Schatten hängen in den Spinnweben.
Da liegt ein Flüstern unter allen Pilzhüten.

Der Wind versteht kaum und entreißt im Aufsteh’n

das Flüstern jedem Pilz. Der Wald muss einseh’n:

 

Er seufzt und lässt den Wind das Flüstern forttragen.

Der flieht - dass niemals mehr ein Wald ihn einfängt -

auf tausend Wegen, bis der letzte einlenkt.

Da stehen Pfähle. Wie sie endlos hochragen,

so spitz geschlagen, dass nichts Fremdes einkehrt,

und - wie nun Wind und Flüstern - selbst sich aufzehrt.

 

Was sind die beiden? Flüstern nicht und nicht Wind,

ein Abschiedswort, das ungehört im Raum steht,

und wie ein letzter Hauch nur noch dahingeht.

Sie werden weniger bis sie dann nichts sind.

Geflüster steckt dann einzig noch im Holz tief,

das voll vom Wind ist, den es schon so oft rief.

 

 

 

________________________________
29. Oktober 2022 | Dali Lama

 

Das hier ist ein kleines Experiment. 
Ich habe den Choljambus vorher nie benutzt und wollte nun einfach wissen,
wie er wirkt und ob er sich überhaupt in dieser Häufung einsetzen lässt.

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Moin Chris,

 

ui, ich staune über das Ergebnis. In der Antike war der Choljambus ungereimt und ich glaube auch, dass er so die beste Wirkung erzeugt. Ich hatte ihn spaßeshalber mal fünfhebig und mit Doppelreimen verwendet und fand, dass das im Humorgedicht auch ganz gut ging.

 

Du stiftest hier neben dem sowieso schon sehr markanten metrischen Bruch am Versende noch mehr Unruhe, indem du Endsilbenreime verwendest, also die Hauptbetonung außer Acht lässt und statt dessen auf die nebenbetonten Silben reimst. Es ist das erste Mal, dass ich solche dissonanten Reime nicht als grobe Patzer, sondern als bewusst gesetzte Akzente zu lesen bekomme.

 

Ich würde sagen, du hast dir mit dem Wald das passende Thema ausgesucht, um klanglichen Wildwuchs darzustellen. Trotzdem ist deutlich zu spüren, dass da emsige Waldarbeiter am Werk waren. Ich muss da noch eine Weile reinhören, um sagen zu können, ob mir das gefällt. 

 

LG Claudi

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Moin Claudi,

 

jau, deine Themen in der Humorrubrik hatte ich auch gesehen und auch in meiner Recherche wurde der Choljambus insbesondere im Kontext von Spottgedichten angesprochen - da sind dann ja auch die Doppelreime sehr passend.
Ich wollte nun einmal schauen, wie der Choljambus in einem längeren Text klingt, fernab vom Humorigen (auch etwa der Paarreim, der ja oft als beschwingt beschrieben wird, kann ja im entsprechenden Kontext ganz andere Wirkungen entfalten).
Wenn das Ergebnis hieraus dann sein soll, dass Reime - insbesondere nur auf der letzten Betonung, nicht wirken, dann bin ich damit auch zufrieden^^ Denn Doppelreim wollte ich auf jeden Fall bewusst vermeiden, ich konnte mir kein Szenario vorstellen, in dem das nicht ulkig rüberkommt.

 

Vielleicht kann das Thema dem Choljambus helfen, denn auch darin beschreibe ich ja einen Bruch mit der Natur, das Verstummen des Urflüsterns, das in allem steckt, aber, je weiter es von der Natur sich entfernt, umso mehr verstummt es. Dieses "Verstummen" fand ich konsequent, auch metrisch mit dem Choljambus auszudrücken.

Außerdem finde ich auch einfach, dass in dem Hebungsprall eine starke Dramatik steckt, die durch ein humoriges Gedicht so vielleicht gar nicht genutzt werden kann.
Und es wäre auch einfach zu schade, wenn das ganze schöne Vokabular mit zwei betonten Silben nie verreimt würde 😄

 

LG Chris

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Moin ferdi,

 

vor 4 Stunden schrieb ferdi:

Die allererste Frage ist ja immer, wieviele Leser heute noch auch (zumindest innere) Sprecher und Hörer sind – einem Großteil wird, denke ich, gar nicht auffallen, dass der Versschluss sich ungewöhnlich verhält.

das weiß ich nicht^^ Aber wenn ich keine Metrikanalysten hätte anlocken können, wäre das hier mindestens eine Selbststudie gewesen 😉

 

vor 4 Stunden schrieb ferdi:

Das "schöne Vokabular mit zwei betonten Silben", wie du es nennst, ist doch eigentlich keines? Bei Wörtern wie "Baumspitzen" gibt die eigentliche Betonung auf der ersten Silbe und dann die Nebebetonung auf der zweiten, die man hervorheben kann, aber für gewöhnlich nicht heben wird. Von daher begänne ich einen Text in Hinkiamben nur ungern so wie du hier: Da ja am Anfang auch der Reim nicht hilft, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass die ersten beiden Verse hier eben als "— ◡ ◡" wahrgenommen werden am Ende. Bewährt haben sich da die "echten Antispaste" wie "erkennt Simon" oder "verdutzt zögert" oder des "des Schahs Turban" – dann weiß der Leser gleich, woran er ist, und kann in den unklareren Fällen richtig wählen.

stimmt, den ersten "eindeutigen" Hinkjambus habe ich erst in Vers 3, das könnte ein Fehler gewesen sein, insbesondere weil der Reim am Anfang noch nicht hilft. Möglicherweise ist, so man da mit Reimen arbeiten will, dann wohl der Paarreim hilfreicher.

 

vor 4 Stunden schrieb ferdi:

Was mich dann zum zweiten Punkt bringt: Je mehr Zusammensetzungen der Form "Baumspitzen" man verwendet, desto größer wird die Gefahr, dass die Versenden eintönig werden durch die vielen "en" in der Endsilbe. Deine erste Strophe zum Beispiel gefällt mir in der Hinsicht gar nicht, und wenn man mehr Schlüsse hat wie die gerade genannten, hilft das auch da.

Strophe 1 ist in der Tat monoton. Ich wollte da in Hinblick auf die Betonung genau das austesten.
S1 hat darum 6 Verse mit XXx-Endung, S2 hat 4 Verse mit XXx-Endung und 2 Verse mit XX-Endung, S3 hat 2 Verse mit XXx-Endung und 4 Verse mit XX-Endung und S4 hat schließlich 6 Verse mit XX-Endung. Es war aber möglicherweise ein Fehler, nur en-Endungen einzusetzen, das mag den Eindruck der Betonungen verfälschen.

 

vor 4 Stunden schrieb ferdi:

Das Reimen an sich ... hm. Spätestens, wenn du in den männlichen Reim wechselst, sind es ohnehin keine Hinkiamben mehr; aber auch vorher zieht der Reim viel Aufmerksamkeit ab von zum Beispiel der beweglichen Mittelzäsur nach der fünften oder siebten Silbe, die ja zum HInkiambus gehört wie zum "richtigen" Trimeter auch. Gleiches gilt für die strophische Ordnung; Das "Niemand kann zwei Herren dienen" der Bibel wirkt auch in die Poetik hinein, denke ich – wie stark, wer weiß es.

Das habe ich nicht so gedeutet. der Jambus am Ende soll durch einen Trochäus oder einen Spondäus ersetzbar sein. Das sehe ich in den Versen mit männlichen Reimen erfüllt. 

 

Bezüglich der Zäsuren kann ich nicht folgen. Ich habe nicht überall Zäsuren gesetzt bzw. nicht immer konsequent nach der 5. oder 7. Silbe, geht es darum?

Nun, die waren in der Tat auch nicht meine oberste Priorität, wie ja auch an den Endreimen erkennbar ist, wollte ich insbesondere die gebrochene Betonung am Ende ausprobieren.
Es liest sich bei dir aber auch so, als würde ein Reim die Wirkung von Zäsuren per se schmälern. Das wirst du nicht gemeint haben, oder?

 

Bezüglich der Strophenform: Ja, da wird es bei mir nichts anderes geben, ich kann nicht ohne Reime und Strophen schreiben. Daran wird der Choljambus sich gewöhnen müssen, wenn ich ihn nutzen soll^^  
Ich sehe keine Notwendigkeit, ein Versmaß für eine gebundene Form zu verbieten, ganz abgesehen davon, dass unsere Übertragungen aus den antiken Originalen ohnehin etwas ganz anderes sind, gilt es doch mehr, einfach herauszufinden, wo sie funktionieren und wo nicht. Ich bin mir sicher, auch der Choljambus kann mit Reim in einer Strophe wirken - ganz ohne Ulk. 
Nur weil ich es hier nicht geschafft habe, sollten wir ihm seine Möglichkeiten nicht absprechen 😉

 

vor 5 Stunden schrieb ferdi:

Die "lange" Variante geht aber sicher auch – die Frage, ob über so viele Verse wie hier bei dir, stellt sich dann natürlich. Ich für mich fand die klassischen längeren Texte in HInkiamben immer etwas anstrengend, auch ohne Reim und Strophe, aber die waren dann Verfassern der eher dritten Reihe, von daher beweist das noch nichts. Gefühlt hielte ich es aber auch bei ernsteren Themen lieber knapp, als dass ich die Zügel schießen ließe.


Ich war selbst überrascht, dass ich 4 Strophen a 6 Verse brauchen würde, das ist vielleicht ein wenig der Story geschuldet und nicht nur dem formalen Ausprobieren, die wollte ich dann auch vollständig aus dem Kopf haben. 
Damit ist dem Choljambus vielleicht nicht unmittelbar geholfen, da gebe ich dir recht.

 

vor 5 Stunden schrieb ferdi:

Der Inhalt, das sei noch angemerkt, überzeugt soweit.

Ich danke dir. 
Und danke auch für deine Auseinandersetzung mit diesem Experiment, daraus sind doch durchaus die ein oder anderen Erkenntnisse für mich erwachsen.

 

LG Dali Lama

 

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