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Auf dem Weihnachtsmarkt (2016)


Rudolf Junginger

Empfohlene Beiträge

Mit dem kalten Nebelwetter kam an diesem Samstag hier endlich einmal glaubhafte Weihnachtsmarktstimmung auf. Bisher war es meist zu warm oder zu sonnig gewesen, um die künstlich winterweiß gestrichenen Marktbuden nicht wie von einem anderen Stern erscheinen zu lassen. Diesmal passte es; die Leuchtgirlanden verliehen dem diesigen Nebeltag etwas von ihrer nordisch stimmungsvollen Atmosphäre. Sie standen im Kontrast zu den engen Marktgassen, die nun dunkel erschienen von den Menschenmassen, die sich dort, in einer Art „Stop and Go“ Takt, zähfließend aneinander vorbeischoben.

Ich war ein wenig im Stress, weil ich noch schnell einen dringenden Einkauf zu erledigen hatte, bevor ich, im Anschluss daran, zum Flughafen fahren musste. Ich war dabei den vorweihnachtlichen Umtrieb im Vorbeilaufen mit einem eiligen Blick zu überfliegen als ein festlich dekoriertes Pferdegespann mit seinen auf dem Pflaster hallenden Huftritten meine Aufmerksamkeit erregte. Ich dachte mir gerade noch, dass dies wohl eine der diesjährigen Neuheiten sein musste, als ich auf einmal ein dumpfes Geräusch vernahm während die Pferdekutsche, fast neben mir, jäh zum Stehen gebracht wurde.

Der Wagen hatte wohl einen Mann gestreift und zu Boden gerissen, wo er jetzt, in einer fast starren Position, lag. Einige lang erscheinende Sekunden schienen die Szene einer dornröschenschlafähnlichen momentanen Stille folgen zu lassen. Auf der einen Seite der Mann, der in seiner gekrümmten Stellung am Boden lag, auf der anderen Seite die Kinder und Erwachsenen die auf der offenen Pferdekutsche saßen und jetzt fassungslos schweigend, unfähig zur geringsten Geste, auf den Gefallenen herunterblickten.

Ich ging auf den Mann zu und streckte ihm mit einem unsicheren "ça va" meine Hand entgegen. Im gleichen Moment eilte von der anderen Seite eine Frau, die ihrer Entrüstung über die Teilnahmslosigkeit der in den Unfall Verwickelten und der Beistehenden Luft machte, herbei, griff dem Mann unter die Arme und erkundigte sich dabei über seinen Zustand. Der Mann stammelte nur etwas Unverständliches, als wir ihn gemeinsam hochzogen, aber er schien sich mit seiner Hand an meine Hand und mit seinen hilfesuchenden Blick an meine Augen zu klammern die er jetzt nicht mehr loslassen wollte.

Die ganze Szene dauerte nur wenige Sekunden. Im nächsten Augenblick nahm sich eine Gruppe von Polizisten und Sicherheitsbeamten des Kerls an, mit der Bemerkung, dass er ihnen bereits wohlbekannt sei. Auch ich hatte sofort gesehen, dass es sich bei dem Mann um einen Menschen handelte, den die Gesellschaft gemeinhin mit wohnsitzlos oder Penner zu umschreiben pflegt. Mit dem ihn umgebenden Alkoholgeruch, seinem blauen Auge und seiner geschlagenen Haltung, trug er alle Stigmata seines Standes. Genauso wie die allesamt in Nikolausmützen gekleideten Insassen des Wagens von der Hypokrisie ihrer gesellschaftlichen Normalität gezeichnet zu sein schienen.

Beide Seiten waren sich so nahe, beide Seiten waren sich so ähnlich in ihrer jeweiligen Hilflosigkeit. Der Unterschied schien nur darin zu bestehen, dass der eine unters Rad gekommen war, während die anderen oben auf dem Wagen saßen.

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Hallo Rudolf,

ich finde es lobenswert, wie du, ohne zu zögern, jenem Unbekannten geholfen hast. 

Die zu Hilfe eilende Frau scheint die ganze Situation sofort erkannt zu haben.

Es gibt einen Roman von Herrmann Hesse mit dem Titel "Unter dem Rad". Den habe ich mal in meiner Heimat auf Spanisch gelesen. Der Protagonist, ein angehender Intellektueller, endet am Schluss als ein einfacher Arbeiter. 

Mitleid, spontanes Mitleid, hat die Gesellschaft nur mit Kinder, vielleicht weil sie noch unschuldig sind.

Sonst nur wenn jemand buchstäblich unter einem Rad gerät und zerquetscht wird.

Das schnelle Erscheinen der Polizei ist ein Zeichen der immerwährende potenzielle Gefahr von muslimischen Terroranschläge oder, wie zuletzt in Trier, eines Wahnsinnigen.

Diese gespannte Atmosphäre prägt New York seit dem Attacke auf die Twin Towers. Diese Stadt, dieses Land ist nicht mehr das, was es mal war, diese auf der Fith Avenue unbesorgt schnell fließende Menschenmenge.

In deiner Geschichte sprichst du den Mann auf Französisch an ... Hat sich das in Frankreich ereignet?

Liebe Grüße

C.

 

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Hallo Elmar,

 

ich danke dir für deinen Kommentar. Wie du siehst ist die Geschichte schon vor 5 Jahren entstanden, dachte mir aber ich stelle das hier ein, weil es zur Weihnachtszeit passt und weil ich vorhatte der Geschichte eine noch zu schreibende 2021 Version gegenüberzustellen. 

 

Liebe Grüße

Rudolf

 

 

Hallo Carlos,

 

auch dir herzlichen Dank für deinen Beitrag. Die Geschichte spielt tatsächlich in Frankreich und kam wahrscheinlich deshalb zustande, weil ich mir, wie die meisten meiner Zeitgenossen, nur sehr selten die Gelegenheit gebe, das lobenswerte Kostüm der Zivilcourage zu tragen. Deshalb fiel es mir relativ einfach für beide Seiten eine Beschreibung zu finden. Der Titel war tatsächlich von der Geschichte von Hermann Hesse inspiriert, die ich vor vielen Jahren in der Originalversion lesen durfte. Der Wille dieses obdachlosen Menschen war mit Sicherheit auch irgendwie in die Mühlen der Gesellschaft geraten und von deren harten Steinen kleingemacht worden. Ja die Zeiten haben sich geändert und der warme Föhnwind der 70er Jahre  den man auch noch in den 90er Jahren spürte, ist schon lange einer kühlen Luftströmung gewichen, die man zwischen den hohen Wolkenkratzern der Großstädte ganz besonders unangenehm zu spüren bekommt. Ich kann mich selbst noch an ein kleines Gratis Freiluftkonzert in der Battery Park-Gegend von New York, ein Jahr nach den Terroranschlägen erinnern. Die Veranstaltung wurde damals von in schwarz gekleideten, militärhelmtragenden Sicherheitskräften mit M16 Gewehren im Anschlag flankiert. Das Wort "Bombenstimmung" hatte sich zwischen zwei Trommelschlägen stillschweigend von der Bühne gemacht, um in den  Ängsten der Konzertbesucher eine neue Heimat zu finden. 

 

Liebe Grüße

Rudolf

 

Hallo Nina,

 

auch dir danke ich für deinen Kommentar. Schaden wurde diesem Menschen mit Sicherheit nicht absichtlich zugefügt und den Äußerungen der Sicherheitsleute zufolge, hatte ich fast das Gefühl, dass er dafür bekannt sei, um Aufmerksamkeit zu ringen, was ja auch ein verkleideter Hilferuf sein könnte. Das schnelle zu Hilfe eilen ergab sich aus meiner Nähe zu dem Geschehen und der Tatsache dass sich außer der Frau niemand dazu herablassen wollte dem Mann beim Wiederaufstehen zu helfen. Meist ist man in solchen Situationen ja doch froh wenn man getrost seines Weges gehen kann, weil sich vor einem schon andere der Problematik widmen. Aber man sieht eben doch ein wenig, wie die Menschen in der Regel so funktionieren. 

 

Liebe Grüße

Rudolf

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