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Gedächtnisprotokoll eines afghanischen Jungen


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Gedächtnisprotokoll eines afghanischen Jungen

 

Wir sind die Familie A. Die Geschichte unseres Lebens ist, dass wir in Afghanistan in Herat, Distrikt Gozareh, Unterdistrikt Malan, in dem Dorf Gholam Oliya lebten. Dort hatten wir ein Haus, eine Obstwirtschaft und Felder und wir arbeiteten als Landwirte und manchmal, wenn das Geld zum Leben nicht reichte, auch als Arbeiter auf anderen Feldern.

In jenem Dorf lebten etwa 20 schiitische Familien zusammen und in den Dörfern um unser Dorf herum lebten Sunniten. Wir bestritten unseren Lebensunterhalt als Landwirte und Arbeiter. Maryam (die Ehefrau vom ältesten Sohn) war in einer Schule neben dem Dorf als Lehrerin tätig. Morteza (der älteste Sohn) und unser Vater arbeiteten hart, um das Wasser für die Felder zu besorgen. Unsere Felder waren alle neben Feldern von Sunniten, mit denen wir öfter durch die landwirtschaftliche Arbeit Probleme bekamen. Die Sunniten beschädigten ständig unsere Obstbäume und Felder, beispielsweise ließen sie ihre Schafe auf unseren bestellten Feldern weiden. Wenn wir um unsere Felder eine Mauer errichteten, rissen sie diese nieder und wenn wir unsere Felder bewässerten, leiteten sie das Wasser wieder aus unseren Feldern heraus. Wir hatten stets Probleme mit den Sunniten. Das Problem hatte angefangen, als unser Großvater und einige andere Familien wegen des Wassers mit den Sunniten und deren Großgrundbesitzer, den Dorfältesten in einer Auseinandersetzung geraten sind. An jenem Tag sind unser Großvater und ein Sunnit getötet worden und es ist viel Blut geflossen an jenem Tag. Seit jenem Tag hatten die Sunniten mit den Menschen aus unserem Dorf und mit unserer Familie ein Problem. Sie haben sich seitdem immer in die Arbeit auf unseren Feldern eingemischt und eines Tages sahen Morteza und unser Vater, die für die Schafe Futter besorgen wollten, dass drei Menschen aus dem sunnitischen Dorf ihre Schafe wie auch zuvor auf unser Feld geführt hatten. Zwischen denen und Morteza und unserem Vater kam es zu Handgreiflichkeiten und einem der Jungen wurde von Morteza die Nase gebrochen. Sie fingen an, religiöse und ehrverletzende Beleidigungen auszurufen. Daraufhin haben wir deren Schafe aus unserem Feld heraus getrieben und sie gingen fort. Keine Stunde später, nach der Rückkehr von Vater und Morteza kamen vier oder fünf Familienmitglieder des Jungen mit seinem Vater und dem Dorfältesten, der Stoffa Khan hieß und ein gemeiner Mensch war, in unser Dorf und fragten, warum habt ihr das getan?

Die Dorfleute und wir sagten, wir haben euch oft ermahnt, aber ihr hört nicht und wiederholt eure Taten. Da antwortete Stoffa Khan, der sich als Dorfältester ausgab, warum habt ihr das nicht mit mir besprochen. Am Ende verließ der Vater des Jungen unser Haus während er uns beleidigte, bedrohte und sagte „wir werden euch nicht so einfach davon kommen lassen.“

Wir dachten, damit wäre es vorbei, doch sie hatten seitdem noch mehr Hass gegenüber unserer Familie. Es ging so weit, dass eines Tages zwei maskiert Männer vor den Augen von Mahdi (der jüngste Sohn) zwei unserer Schafe mitnahmen. Er kam nach Hause und berichtet uns von dem Vorfall und wir gingen, mit einigen Leuten aus unserem Dorf, in deren Dorf und fragten, warum sie das getan haben und verlangten unsere Schafe zurück. Sie antworteten, wir wissen von nichts und lasst euch hier lieber nicht blicken. Wir gingen zu jenem Stoffa Khan und sagten, warum tun diese Menschen so etwas?

Warum sagen Sie nichts und bei wem sollen wir uns beschweren? Er lachte uns aus und sagte, ihr habt dem Jungen die Nase gebrochen und ihr seid selbst schuld daran. Wir antworteten, dass wir uns über die Einwohner des Dorfes in der Stadt eine Beschwerde einreichen würden. Er sagte, tut es nicht. Es wird euch schaden. Wir hörten nicht auf ihn und dachten, dass eine Beschwerde bei den Behörden uns helfen wird. Leider wussten wir nicht, dass es noch schlimmer sein wird. Als wir uns beschwerten, sagte uns die Polizei, ihr seid die Schuldigen. Der Polizist war bedauerlicherweise ein Verwandter von Stoffa Khan und die Beschwerde hat uns nichts genutzt, jedoch erfuhr Stoffa Khan von unserer Beschwerde über ihn und die anderen Dorfbewohner. Eines Tages als Morteza und Mahdi sein Bruder zum Einkaufen in die Stadt fuhren, haben auf dem Rückweg zwei Motorradfahrer sie aufgehalten und haben sie geschlagen und ausgeraubt. Sie sagten: „Ihr beschwert euch über unseren Dorfältesten?“ Und sind weggefahren.

Einmal sind Maryam und ihre kleine Schwester (12 Jahre) von der Schule nach Hause gekommen und sagten, in den letzten Tagen verfolgen und belästigen uns zwei oder drei Personen. Morteza ist darauf zur Schule gegangen und hat dem Schuldirektor Bescheid gegeben. Der Direktor sagte, wir haben ja einen Jahresvertrag mit ihrer Frau und ihre Frau ist eine sehr gute Lehrerin finden, somit werde ich etwas mehr aufpassen.

Eines Tages kamen Maryam und meine jüngste Schwester nicht nach Hause. Morteza ging zur Schule und der Direktor sagte, dass die beiden zur gleichen Zeit, wie jeden Tag, die Schule verlassen hatten. Wir haben überall nach ihnen gesucht. Am Abend kam Maryam weinend und verletzt nach Hause und berichtete, drei Personen haben uns mit Gewalt gezwungen in ein Auto zu steigen. Männer haben unsere Augen zugebunden und uns zu einem unbekannten Ort verschleppt. Dann haben sie mich und Ameneh vergewaltigt und mich in der Nähe des Dorfes frei gelassen und Ameneh behalten. Sie habe mir gesagt, geh zu deiner Familie und sage denen wir haben das getan, damit ihr nie wieder uns verbal bedroht und euch nie wieder über Sunniten beschwert und nie mehr unsere Kinder verletzt und haben weitere Drohungen ausgesprochen. Wir sind an dem Abend noch zur Polizei gegangen, haben jedoch um unsere Ehre zu schützen nichts über die Vergewaltigung gesagt. Wir haben nur gesagt, dass man unsere kleine Schwester entführt hat. Polizei fragte, ob wir jemanden verdächtigen. Wir wussten, dass es die Leute aus jenem Dorf sein mussten. Die Polizei fragte, ob wir Beweise oder Zeugen dafür haben. Wir sagten, dass es Leute von Stoffa Khan sein müssten, weil sie bewaffnet waren.

Polizei erwiderte, solange ihr nichts beweisen könnt, können wir nichts tun. Daraufhin sind wir zu Stoffa Khan gegangen und sagten ihm, alles, was du sagst, werden wir akzeptieren, nur lasse unsere Tochter frei. Stoffa Khan drohte: Ich habe euch doch gesagt, werdet meine Leute und nehmt wie meine anderen Männer eine Waffe zur Hand und dann wird euch niemand mehr belästigen. Wir wussten, dass diese Leute gemein waren und Menschen vergewaltigten und haben deshalb sein Angebot nicht angenommen. Doch Stoffa Khan war nicht jemand, dessen Angebot man einfach so ablehnen konnte. Wir sagten, wir geben unsere Felder und Gärten und alles, was du willst ab. Sag nur deinen Leuten, sie sollen unsere Tochter frei lassen, sonst sind wir gezwungen uns an höheren Stellen zu beschweren. Er sagte, ich habe weder damit zu tun, noch weiß ich etwas darüber. Daraufhin hat er uns mit Gewalt aus seinem Haus geworfen und sagte uns, tut, was ihr wollt. In derselben Nacht gegen 12 oder 1 Uhr nachts klopfte es an unsere Tür. Mein Vater öffnete die Tür und fand einen Sack hinter der Tür und fand darin die Leiche seiner jüngsten Tochter, unserer kleinen Schwester. Sie war ermordet worden.

Im Sack war auch eine kleine Plastiktüte, darin war ein Brief. Darin stand: Das ist erst der Anfang, erwarte auch den Tod deines kleinen Sohnes Elias. Falls du nicht möchtest, dass das passiert, musst du tun, was wir dir sagen. Sonst erlebst du auch den Tod deiner anderen Kinder. Wir wollen, dass du von hier weg gehst, sonst ist unser Hass ewig mit euch.

In dieser Nacht bekam mein Vater eine Herzattacke. Zwei Verwandte haben ihn ins Krankenhaus gefahren. Auch wir waren durch die Geschehnisse und das, was Maryam und Ameneh, meiner kleinen Schwester geschehen war, völlig geschockt, voller Angst und ratlos. So dachten wir nur, dass ein weiterer Konflikt mit den Leuten unsere Familie bedrohen würde und beschlossen, unser Dorf zu verlassen. Wir haben uns mit vielen Schwierigkeiten in den Iran durchgeschlagen.

Dort haben Morteza und Mahdi gearbeitet, um die Familie zu ernähren und die Miete zu zahlen. Bis eines Tages Morteza anrief und sagte, dass er und Mahdi festgenommen wurden und nach Afghanistan geschickt worden sind. Dort haben sie bei einem Freund in der Stadt gewohnt und sie haben vor lauter Angst nicht einmal unsere Verwandten benachrichtigt. Einige Tage später haben sie einen Schlepper kennengelernt, der sie in den Iran bringen sollte. Der Schlepper fragte, warum wollt ihr in den Iran, ich kann euch nach Europa bringen. Morteza sagte, dass er kein Geld dafür hat. Der Schepper fragte, ob wir ein Haus oder Grundstücke haben. Morteza erwiderte, dass wir ein Haus haben. Der Schepper sagte, überschreibt mir euer Haus und ich bringe euch nach Griechenland und von dort ist der Weg offen und ihr könnt selbst weiter gehen. Morteza willigte ein.

Anmerkung:

Ich schrieb dieses Gedächtnisprotokoll (erzählt vom jetzt 17-jährigen Elias). Ich begleitete und unterstützte diese Familie. Es hat sehr lange gedauert, bis sie soviel Vertrauen hatten und anfingen zu berichten. Elias war 4 Jahre alt als er erblindet ist, seine Schwester Masum (26 Jahre) ist von Geburt blind.

 

© Ilona Pagel 2016

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 Ilona, ich noch einmal

Wow, ergreifend und erschreckend . In diesen Ländern ist das Menschenrecht nichts wert. Gedanklich läuft jetzt ein Film in meinem Kopf ab, was man oft nur im Fernsehen sieht. Aber ich glaube, die Tatsachen übertreffen mitunter noch um einiges. Du hast es sehr gut beschrieben- Auch so eine Art Mafia, 

keine Gute Abendlektüre und doch sollte man dies nicht verschweigen. Ich finde es gut dass du es aufgeschrieben hast

Pegasus

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Ihr Lieben 

@Uschi R. @Pegasus @JoVo

Ich bedanke mich herzlich und bin mir klar, mein Protokoll ist weder von der Länge noch vom Inhalt leicht zu lesen. 

Lange habe ich überlegt, ob ich das Protokoll so reinstelle, wie ich es damals von Elias gehört habe.

Nur die Namen habe ich jetzt auf Wunsch von Elias leicht geändert. Selbst nach 8 Jahre hat Elias immer noch Furcht vor dem Dorfältesten. 

Elias hat trotz seiner Blindheit den Realschulabschluss geschafft und steht kurz vor seinen Abschlussprüfungen als Informatiker. 

Liebe Grüße Ilona 

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