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Geschichte für einsame Nächte: Seltene Gastfreundschaft


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Seltene Gastfreundschaft.

Aus: Griechenland/Türkei 1966 - Erinnerungen an eine Reise ins Ungewisse.

 

Kurz nach vier hatten wir eine Reihe von ansehnlichen Villen und Häusern erreicht, die nur durch die Straße und etwas Buschwerk vom Meer getrennt waren. Sie standen auf ziemlich großen Grundstücken, in größerem Abstand zueinander, um sich nicht gegenseitig ins Gehege zu kommen. Alles sehr nobel aussehend und sehr gepflegt.

    Die zweite der Villen, etwas zurückliegend, deren imposante Fensterfront durch Holzläden verschlossen war, besaß einen großen, gepflegten Swimmingpool, der uns “verheißungsvoll“ anlachte.

Das Haus verschlossen, kein Eigentümer zu sehen. Perfekte Lage quasi gegenüber dem Ägäischen Meer, Nachbarn etwas weiter entfernt, was konnte es besseres geben?

Ein idealer Platz, um zu übernachten. Das Grundstück, das nur durch eine niedrige Mauer vor der Straße geschützt war, ließ sich durch ein kleines, geschmiedetes Eingangstörchen betreten. Es quietschte nicht einmal, als wir es öffneten. Zwischen dem Haus und dem Swimmingpool gab es einen mit großen Platten gepflasterter Sitzbereich. Auf dem konnten wir ungehindert unsere Schlafsäcke ausbreiten und später unsere Füße zum Abkühlen ins Wasser stecken. Richtiger Luxus für einen Tramper, der den ganzen Tag zu Fuß unterwegs ist. 

   Der Sitzbereich als Liegeplatz war ideal, weil wir dadurch den Rasen und die vereinzelten halbhohen Sträucher nicht unnötig strapazieren mussten.

Alles war, ganz gekonnt, in mediterraner Optik um das Haus herum angepflanzt. Schließlich kostete die Pflege einer solchen Anlage vor allem im Sommer, wenn es hier 30 - 40 Grad heiß war, bestimmt eine Menge Geld.

Wenn wir das Grundstück schon unerlaubt nutzten, so wollten wir wenigstens auch keinen Schaden anrichten.

   Gerade hatten wir es uns, gut gelaunt, gemütlich gemacht und waren drauf und dran, die Füße ins Wasser zu stecken, als plötzlich ein einfach gekleideter, älterer Türke, so um die 60 Jahre alt, aus einer Seitentür des Hauses auftauchte.

 

    “Verdammter Mist,“ sagte ich zu Danny, “hoffentlich gibt es jetzt keinen Ärger“.

 

Doch anstatt sich auf uns zu stürzen und eine Schimpfkanonade loszulassen, blieb er ganz ruhig und sagte in freundlichem Ton und akzeptablem Englisch:

 

 „Please, come with me.“

 

Das passte eigentlich gar nicht zu seiner Person und so waren wir zuerst unsicher, ob und wohin wir folgen sollten. Vielleicht war das nur ein Trick, um uns irgendwo festzusetzen. Dass Menschen es nicht immer gut meinen, hatten wir ja gerade mit dem Taxifahrer erlebt.

Seine Handbewegungen aber machten deutlich, dass wir ihm in das Haus folgen sollten.

 

Drinnen angekommen, machte er zunächst alle Fensterläden auf, so dass wir den prachtvoll eingerichteten Wohnbereich bestaunen konnten, der überall mit dicken, wertvollen Orientteppichen ausgelegt war. An den Fensterseiten fielen rechts und links goldfarbene Brokatschals bis auf den Boden. Über die Wände verteilt hingen in Abständen diverse, wertvoll aussehende Bilder, auch von modernen Künstlern. Im Raum gruppiert standen eine halbhohe, erdfarbene, antike Vase mit künstlichen Gräsern, eine mannshohe Venus aus weißem Marmor, ein speerwerfender Jüngling aus einem grünlichen Metall gearbeitet, sowie der obere Teil einer antiken dorischen Säule, die bis zur Decke reichte und die sicher früher zu einem antiken Tempel gehört hatte.

   Dazu gab es eine ausladende, aufwändig gepolsterte Couch und drei Sessel in einem satten Dunkelgrün, sowie einen massiven Couchtisch aus hellem Naturholz. An den Seiten des Raumes sahen wir mehrere kleine, aber auch zwei, halbhohe Schränke mit Einlegearbeiten, die teilweise mit Messing beschlagen waren und dicke Bücher, Folianten und kleinere Kunstgegenstände enthielten.

Wir waren einfach baff und hatten das Gefühl, so abgerissen wir waren, eigentlich gar nicht hierher zu gehören. Das konnte einem schon die Sprache verschlagen. Unser Gastgeber genoss unser Erstaunen sichtlich.

 

Dann ging er auf eine elegante Tür mit goldenen Verzierungen zu, die in ein repräsentatives Schlafzimmer führte, wie wir es bisher noch nicht gesehen hatten. Das gab es sonst wahrscheinlich nur in orientalischen Palästen oder berühmten internationalen Hotels. Dannys Vater, als Marketingchef, durfte, so hatte ich mitbekommen, von Zeit zu Zeit auf Firmenkosten in so was übernachten.

Gleich daneben lag ein geräumiges Badezimmer mit Wanne, Dusche und goldverzierten Wasserhähnen. Natürlich waren auch passende Handtücher vorhanden.

Als der alte Mann dann auch noch die Bettdecken aufschlug und mit einer einladenden Geste sagte, dass wir das Bad benutzen und in diesen Betten schlafen dürften, kamen wir uns wie im Märchenland vor. Einfach unglaublich.

 

Was hatte das zu bedeuten? Was bezweckte der Mann damit?

Doch die Versuchung war einfach zu groß. Wir nahmen die Einladung an, legten unsere Rucksäcke und Schlafsäcke auf den Boden des Schlafzimmers und verdrängten die Frage nach dem Warum.

    Die Zeiten des Menschenhandels waren eigentlich vorbei. Was sollte uns schon passieren? Außerdem könnten wir uns später ja immer noch um entscheiden. Wir waren schließlich zu zweit und würden uns schon wehren können, sollte jemand Böses mit uns vorhaben. 

Als wir den Alten fragten, was wir denn für die Übernachtung zu bezahlen hätten, wehrte er entschieden ab. Wir brauchten nichts zu bezahlen, da wir noch so jung seien und sicher wenig Geld hätten. Das Haus stünde sowieso nur die ganze Zeit leer.

   Wir nutzten die Gelegenheit, um uns gründlich zu duschen und kamen uns danach wie neugeboren vor. Mein Gott, was für ein Gefühl mal den ganzen Dreck vom Körper zu haben. Inzwischen war es fast sechs Uhr geworden.

Da wir noch nichts gegessen hatten, ließ sich Danny von dem Alten den Weg zum nächsten Lebensmittelmarkt in Altinova beschreiben, der nicht sehr weit entfernt sein sollte. Die hatten, so sagte unser Gastgeber den ganzen Tag bis zum späten Abend offen.

 

Während Danny einkaufen ging, unterhielt ich mich in der Küche ganz gut mit dem „alten Herrn“. Er schien froh, einen Gesprächspartner gefunden zu haben:

Er erzählte mir, die Villa gehöre einem reichen Teppichhändler aus Izmir, der noch mehr solcher Häuser besitze und, wenn überhaupt, nur einmal im Jahr zu Besuch komme. Er selbst sei fest angestellt, um sich um das Haus, die Kühe, Schafe und den Garten zu kümmern. Das sei eine Menge Arbeit, so dass keine Langeweile aufkäme, aber er fühle sich oft allein, da seine Frau vor ein paar Jahren gestorben sei und seine Tochter Hamiyet jetzt in Antalya lebe.

    Sie führe dort ein Hotel mit ihrem Mann, so dass sie ihn höchstens ein - bis zweimal im Jahr besuchen könne. Sein Sohn Sadik, der in Zonguldak arbeite und dort verheiratet sei, komme einmal im Jahr mit seinem Enkel Öner zu Besuch. Er arbeite als Ingenieur für ein Bauunternehmen. Er habe immer viel zu viel Stress, da das Unternehmen seine Fertigstellungstermine einhalten müsse. Die Zeiten würden einfach immer schwieriger. Unter diesen Bedingungen sei es nicht leicht die Familienbande aufrecht zu erhalten. Aber er könne seinen Kindern nicht zur Last fallen. Er habe hier einen guten Job, deshalb wolle er auch nicht zu den Kindern ziehen, wie das in der Türkei eigentlich üblich sei.

   Ich war schon sehr erstaunt, dass in diesem Fall der sonst übliche, mehr als enge, Zusammenhalt, der Türkische Familie nicht mehr gelebt wurde. Aber das moderne Leben, dass kaum jemandem einen Arbeitsplatz in der Nähe des heimischen Dorfes garantiert, ging halt auch an den jahrhundertelang gewachsenen Traditionen nicht spurlos vorüber. Zusätzlich hatte die Emanzipation der Frauen, die es bisher in diesen Bereichen nicht gab, sich doch in dem einen oder anderen Fall ihren Weg gebahnt. Wirtschaftliche Zwänge und überkommene Tradition ließen sich auch damals schon, das wurde mir klar, oft nur schwer miteinander verbinden.

 

In der Zwischenzeit war Danny vom Einkaufen zurück, er hatte Brot, Tomaten, Käse, rohen Schinken, Eier und Obst mitgebracht und zwar so viel, dass es locker für uns drei reichte.

 

     „Wenn wir für die tolle Übernachtung schon nichts bezahlen müssen, dann müssen wir uns auf andere Weise erkenntlich zeigen.“ sagte er mir, als unser Gastgeber nach draußen ging, um nach seinen Kühen zu sehen.

 

    „Ich habe auch noch zwei eineinhalb Liter Flaschen Rotwein mitgebracht, damit wir später etwas feiern können. Das haben wir uns redlich verdient und unseren Gastgeber wird das sicherlich auch freuen.“

 

    „Das glaube ich nicht,“ gab ich zu Bedenken, „der ist Moslem und darf keinen Alkohol trinken.“

 

    „Verdammt noch mal, daran habe ich nicht gedacht. Das ist wirklich blöd. Vielleicht trinkt er ja doch was, wenn wir in Stimmung sind und der Abend weiter fortschreitet. Allah kann ja nicht überall sein.“

 

 Als der alte Mann zurückkam, hatten wie bereits den Tisch gedeckt. Da wir unseren Gastgeber gerne mit seinem Namen ansprechen wollten, fragten wir ihn vorsichtig, ob ihm das recht sei. Dazu müsste er uns natürlich auch seinen Namen sagen.

 

    „Ich heiße Kenan,“ antwortete er mit einem Lächeln „das heißt übersetzt: der Wächter des Tores zum Paradies, passt doch, oder? Eure Namen habe ich ja schon aus euren Gesprächen entnommen: Tom und Danny. Ihr habt ja sicher auch nichts dagegen, wenn ich euch auch mit Vornamen anspreche.“

 

    „Natürlich nicht, das verlangt der Respekt. Du könntest unser Großvater sein.“

 

Nachdem wir das geklärt hatten, begannen wir mit dem gemeinsamen Abendessen. Kenan fragte, ob wir lieber Cay oder frische Milch trinken wollten. Wir entschieden uns für den Tee.  Er holte einen Samowar aus dem Schrank, füllte Holzkohle ein und zündete sie an, damit wir heißes Wasser zur Verfügung hatten.

   Beim Essen der frisch eingekauften Lebensmittel, die alle einen wunderbaren, natürlichen Eigengeschmack hatten, verging die Zeit wie im Fluge:

Gekochte Eier, frisches Brot mit Käse, Schinken oder Tomaten belegt und Früchte, die direkt vom Feld kamen und ausgereift waren, dazu schmackhafter Türkischer Cay, das war ein richtiger Hochgenuss.

Als wir so gegen neun mit dem Essen fertig waren, zündete Kenan sich eine Pfeife an. Der Tabak roch süßlich, aber doch würzig und verbreitete gleich eine angenehme Atmosphäre. 

Kenan bat uns, von den Erlebnissen unserer bisherigen Reise zu erzählen, da er selbst leider noch nicht sehr weit herumgekommen sei.

    Der Genuss des Tabaks, vielleicht auch unsere Anwesenheit schien ihm gut zu bekommen, denn seine Augen begannen zu leuchten, er wurde lebhafter und wirkte sehr zufrieden. Danny und ich sahen uns an, dachten das Gleiche, wagten aber nicht zu fragen, was dem Tabak, der so offensichtlich zur besseren Stimmung beitrug, beigemischt war. Auch für unsere Nasen war der Tabakgeruch angenehm. Danny traute sich jetzt die Flaschen Rotwein, die er bisher noch in einem Plastikbeutel stehen gelassen hatte, auf den Tisch zu stellen und holte drei Wassergläser aus dem Küchenschrank.

   „Trinkt ihr mal ruhig Jungens,“ sagte Kenan, ihr seid ja Christen und jung genug, dass Euch der Alkohol nicht gleich den Kopf verdreht. Für mich ist das nichts. Wir Türken sollen das nicht, sagt der Prophet. Ein klarer Kopf ist immer wichtig.“

 

Und so begaben wir uns in Gedanken nochmal auf die Reise und berichteten, von den interessanten und verrückten Sachen, die wir bereits erlebt hatten.

Nach dem dritten Glas Wein waren wir auch ziemlich locker und schmückten unsere Geschichten mit lustigen Details, die Kenan Freude bereiteten. Er wollte alles genau wissen und fragte oft nach, um jede Einzelheit zu verstehen, vor allem die, die seiner Kultur eigentlich fremd waren. Er lernte Griechenland und die Griechen auf eine ganz andere Art kennen, als er es aus der Türkischen Presse gewohnt war. Auch Matala mit den vielen Jugendlichen aus aller Welt, die dort einfach zusammengekommen waren, um dort frei und unbeschwert leben zu können, beschäftigte ihn sehr. Und natürlich die Geschichten über die Kämpfe der Johanniter mit den Türken um Rhodos, von denen er bis dahin noch nichts gehört hatte.

Danny, der es immer noch nicht aufgegeben hatte, Kenan an unserem Rotwein zu beteiligen, schob ihm einfach ein randvolles Glas über den Tisch und sagte:

 

     „Komm, alter Freund. Trink ruhig ein Glas mit, das erwärmt das Herz. Der Prophet wird dich deshalb nicht gleich ins Fegefeuer verdammen. Stoß mit uns an. Heute sind wir eine lustige Familie.“

 

Kenan war von den vielen Geschichten so angeregt, dass er das Glas ohne Bedenken nahm, uns zuprostete und einen kräftigen Schluck herunterkippte. Das blieb nicht sein Letzter.

   Irgendwann um Mitternacht, wir hatten auch Geschichten über unser Leben in Deutschland erzählt und die Flaschen bis auf einen kleinen Rest gemeinsam alle gemacht, stellte Kenan das Radio an und wir lauschten der traurig, melancholischen Türkischen Musik, die wir, jetzt schon ganz schön “angeheitert“, gar nicht mehr so schlimm fanden. Kenan, natürlich auch schon ziemlich berauscht, weil er den Alkohol nicht gewöhnt war, tanzte jetzt selbstvergessen in der Mitte des Raumes, dem Rhythmus der Musik folgend. Wir, die wir auch nicht mehr nüchtern waren, folgten seinem Beispiel und bewegten uns, die Hände über den Kopf haltend und mit den Fingern schnippend mit, während wir uns um uns selbst drehten.

Danny, ziemlich aufgekratzt, imitierte anschließend eine Bauchtänzerin während Kenan dazu mit den Händen klatschte. Eine Frau durfte, wenn auch nur in Gedanken, in einer Männerrunde nicht fehlen.

 

Schließlich landeten wir, um uns zu erholen und frische Luft zu schöpfen, vor der Küchentür, die in den Garten führte.

Draußen standen, eigentlich in sicherer Entfernung zwei Kühe, ruhig auf der Wiese, die an einer langen Leine angepflockt waren.

Der Mond schien relativ hell, so dass man sie gut sehen konnte.

Danny, wie immer auf einen Gag aus, jetzt umso mehr, da er ganz schön einen  “im Kahn“ hatte brüllte plötzlich:

 

     „Auf in den Kampf, Torero. Wer Angst hat, bleibe hinter mir zurück.“

 

Dann rannte er mit ausgebreiteten Armen, so als wolle er sie umarmen, auf die Kuh zu, stürzte sich auf sie, packte sie an den Hörner und versuchte sie auf den Rücken zu legen, was ihm natürlich nicht gelang.

Die Kuh wusste zunächst gar nicht, wie ihr geschah, dann aber muhte sie laut in ihrer Verzweiflung, denn sie war ja angebunden und trat seitlich nach hinten aus. Meinen Freund, der endlich wieder zur Besinnung kam und sie daraufhin in Ruhe ließ, traf sie gottseidank nicht.

   Das hätte uns gerade noch gefehlt, ihn in seinem Zustand in der Nacht zum Arzt bringen zu müssen.

Nachdem er sich wieder eingekriegt hatte, kam er mit der Bemerkung: “Ich wollte immer schon mal Torero werden und auf einer Kuh reiten“ strahlend zu uns zurück.

 

Kenan hatte das “Heldenstück“ glücklicherweise nicht mitbekommen, da er zu sehr mit sich selbst und seinem Zustand beschäftigt war. Jetzt an der frischen Luft zeigte der Alkohol eindeutig Wirkung. Er schwankte hin und her und versuchte sein Gleichgewicht zu bewahren.

 

Wir nahmen ihn von beiden Seiten   unter den Arm, sprachen ihm gut zu und brachten ihn in sein Schlafzimmer, das sich neben der Küche befand.  Da er nicht mehr in der Lage war, sich seiner Sachen zu entledigen, legten wir ihn in voller Montur ins Bett, nachdem wir ihm wenigstens seine Schuhe ausgezogen hatten. Da er noch immer lächelte und selig vor sich hin brummelte, brauchten wir uns wohl keine Sorgen zu machen. Er war dann auch nach kurzer Zeit laut schnarchend eingeschlafen.

Wir hatten das Bett, wie wir, von der frischen Luft ernüchtert, feststellten, auch dringend nötig, zogen uns jedoch noch aus, bevor wir uns in diesen Traum von Bett fallen ließen, das er uns zugeteilt hatte. Kaum zugedeckt, waren wir schon eingeschlafen.

   Am nächsten Morgen, es war so gegen neun, stellten wir uns unter die Dusche. Ein abwechselnd heißer und kalter Schauer weckte die Lebensgeister. Auch wenn der Kopf sich noch etwas dumpf anfühlte, so hatten wir wenigstens keine Kopfschmerzen und auch der Magen fühlte sich ganz normal an. Wir gingen in die Küche, um nach unserem Gastgeber zu schauen. Da wir ihn nirgendwo finden konnten, deckten wir schon mal den Tisch und füllten den Samowar nach, da wir alle einen guten, starken Cay würden gebrauchen können.

Kurz darauf erschien Kenan etwas verkatert in der Schlafzimmertür und schien sich erst orientieren zu müssen:

 

    „Muss unbedingt meine Kühe melken. Verdammt, das ist mir noch nie passiert,“

und schüttelte dabei verzweifelt den Kopf, „jetzt muss ich aber sofort los, was sollen die von mir denken.“

 

Aus einem Abstellraum holte er einen Melkschemel und einen sauberen Eimer, öffnete die Tür zum Garten und machte sich immer noch leicht schwankend auf den Weg zu seinen Kühen.

 

Was wir alle nicht erwartet hatten geschah:

 

Als die Kuh, die Danny in der Nacht erschreckt hatte, Kenan auf sich zukommen sah, brüllte sie laut, riss sich von ihrer Halterung los und galoppierte tiefer in den Garten hinein.

Kenan schüttelte fassungslos den Kopf. Den Pflock, an dem die Kuh angebunden gewesen war, hatte sie aus dem Boden gerissen und mitgeschleift.

   Danny hatte natürlich ein schlechtes Gewissen, fürchtete aber, dass die Kuh auf ihn noch ängstlicher reagieren würde und verschwand deshalb wieder in die Küche.

Also ging ich mit Kenan, der der Kuh, um sie zu beruhigen, liebkosende Worte zurief, weiter in den Garten hinein, um sie wieder einzufangen. Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich konnten wir die Leine mit dem Pflock packen und die Kuh langsam und vorsichtig in die Nähe des Hauses zurückführen. Während ich die Kuh festhielt, holte Kenan einen Hammer und schlug den Pflock wieder fest in den Boden.

Den Versuch, sie zu melken gab er für diesen Tag auf:

 

    „Merkwürdig, wirklich merkwürdig,“ sagte er, „was sie wohl hat, vielleicht hat ein Fuchs oder ein Raubvogel sie erschreckt, die sind hier nämlich schon mal auf Jagd. Tom, ich glaube wir gehen jetzt besser rein und lassen sie in Ruhe. Ein kräftiger Tee und ein Frühstück könnte mir wirklich nicht schaden. Wie ich sehe, habt ihr schon alles vorbereitet, das ist gut.“

 

Wir setzten uns also gemeinsam an den Tisch und hingen zunächst unseren Gedanken nach:

 

    „Vielleicht hat Allah mir das mit dem Rotwein doch etwas übelgenommen,“ sagte Kenan unvermittelt, „aber Wein, den man von Freunden angeboten bekommt, darf man auch nicht einfach ausschlagen, das wäre sehr unhöflich und nicht korrekt“

 

Wir nickten zustimmend mit den Köpfen und hielten uns ansonsten bedeckt.

Nach dem Frühstück ließen wir uns von Kenan erklären, wie wir von hier am besten nach Izmir kommen könnten:

 

    „Schade, dass ihr schon wieder aufbrechen müsst. Hätte euch gerne noch etwas bei mir gehabt. Ich habe durch euch wieder gemerkt, wie einsam ich hier bin. Man fühlt sich gleich jünger, wenn Leben im Haus ist.

Aber ich verstehe, dass ihr wieder pünktlich zum Semesterbeginn zurück sein wollt. Sonst hättet ihr noch gerne ein paar Tage bei mir bleiben können. Ihr habt noch eine große Strecke vor euch, wenn ihr noch all die Plätze sehen wollt, die ihr euch vorgenommen habt.“

 

Ganz ehrlich, auch wir taten uns schwer, diesen außergewöhnlichen Ort so schnell wieder zu verlassen. An ein solch angenehmes Umfeld und diesen netten Menschen konnte man sich leicht gewöhnen. Vielleich war es schon deshalb besser, unverzüglich wieder aufzubrechen.

Der Bus von Kücükkoy über Aliaga nach Ismir würde für die restlichen 130 km mindestens drei Stunden unterwegs sein. Wir waren, wie wir jetzt feststellten, etwa auf der halben Strecke nach Izmir aus dem Taxi geflohen.

   Unser Abschied war herzlich, aber irgendwie auch bedrückend. Wir waren uns ein gutes Stück nahegekommen. Kenans Gastfreundschaft und seine freundliche Art waren nicht selbstverständlich.

Deshalb musste er es über sich ergehen lassen, dass wir ihn zum Abschied innig umarmten und uns bedankten. Soviel Gefühl zu zeigen, war ihm nicht ganz geheuer. Er wünschte uns viel Glück und bat uns vorsichtig zu sein. Dann winkte er uns hinterher, bis er nach kurzer Zeit im Haus verschwand. Die Fensterläden hatte er wieder komplett geschlossen, sodass das Haus unbewohnt aussah.

 

 

© Thomas W. Bubeck            “Buntes Leben“ 20   

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Lieber Carlos ,lieber JoVo,

Ich freue mich,dass Euch diese Geschichte gefallen hat. Ich bin froh, dass mein Leben mir soviele interessante Situationen geschenkt hat, die jetzt, wo mein Leben etwas ruhiger geworden ist, meine

Fantasie beleben und mein Herz erfreuen. Sie sind ein gutes Gegengewicht zu den vielen fast depressiv wirkenden Beiträgen, die ich immer wieder lese und die das Gefühl erwecken, es gäbe kein schönes Morgen mehr. Dabei geht es uns bei allen Belastungen immer noch sehr gut und ein wenig mehr Optimismus wäre angebracht. Schwierige Situationen gab es schon immer und die wird es weiter geben.

Unsere Wahrnehmung läßt sich durch unsere Einstellung beeinflußen.Davon sollten wir mehr Gebrauch machen.

Liebe Grüße und nochmals Dank für Eure Kommentare.

 

Thomas /Tobuma

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