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Ich musste eingeschlafen sein. Die junge Frau, die neben mir gesessen hatte weckte mich sanft: „Sie müssen aufwachen, wir müssen aussteigen. Wir haben eine Panne."

 

Ich schaute verschlafen in ihre karneolbraunen Augen. Ihre schönen Locken bewegten sich leicht im Zug der eiskalten Klimaanlagenluft. Sie hatte sich einen roten Schal umgelegt, um nicht zu frieren. Sie hatte ihn so über ihr Gesicht gezogen, das man fast nur noch ihre Augen sehen konnte.

 

„Es ist kalt“ murmelte ich und tatsächlich begann ich in dem Augenblick zu frieren, indem ich erwacht war.

 

Schon kam die Stimme des Reiseleiters über den Lautsprecher: „Bitte steigen Sie alle aus. Wir haben einen Motorschaden. Wir können die Reise nicht mehr fortsetzen. Nehmen Sie keinerlei persönliche Gegenstände mit. Sie müssen alles hierlassen." 

 

Ich blickte mich um, verschlafen, erwachend. Versuchte mich zu orientieren. Die Reihen waren voll besetzt: Alte Menschen, junge Menschen, Familien. In der Reihe vor mir begann eine Mutter zu weinen und strich über den Kopf ihres Jüngsten, der sie aus großen Augen anschaute. Das Kind war ungewöhnlich ernst. Es war eine seltsame Hintergrundmusik, wie das Summen in einem Bienenstock: Leises  Schluchzen, geflüsterte Gebete, nur manchmal wurde das Hintergrundrauschen von einem markerschütternden Schrei zerrissen.

 

Ich schaute zu meiner Sitznachbarin. Die junge Frau strich sich die Locken aus dem Gesicht: „Sie haben Angst“, sagte sie ruhig: „Wir können nicht weiterfahren. Wir müssen aussteigen. Haben SIE Angst ?“, fragte sie.

 

Ich schüttelte den Kopf: „Mir ist nur sehr kalt“.

 

„Hier nehmen sie meine Hand. Sie ist weich, wie ein guter Gedanke. Sie wird sie wärmen“.

 

Ich nahm ihre Hand und tatsächlich war sie weich, weich wie Kirschen im Sommer und warm: „Danke“, flüsterte ich.

 

Da saßen wir beide, Fremde, durch Schicksal miteinander verbunden,  nun Hand in Hand und um uns herum begannen die Menschen sich von  ihren Habseligkeiten und von einander zu verabschieden und schweigend auszusteigen. Reihe für Reihe, geordnet.

 

Ich blickte durchs Fenster aber es war stockfinster: „Sind wir bei Nacht gefahren ?“ sagte ich mehr zu mir selbst als zu meiner Sitznachbarin: „Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir in die Nacht hineingefahren sind“.

 

„Wir sind an der Reihe“, flüsterte sie: „Verabschieden Sie sich von Ihren Sachen und halten Sie meine Hand. Lassen Sie meine Hand nicht los, egal was passiert“. Ich nickte verwirrt und suchte meine Tasche unter dem Sitz: „Ich muss sie verloren haben“ murmelte ich: „meine Tasche, ich muss sie verloren haben. Ich finde sie nicht mehr“.

 

„Sie sind so freundlich und hilfsbereit, dabei kennen wir uns doch gar nicht“, sagte ich zu der jungen Frau. Unter ihrem Schal schien sie zu lächeln: „Ich bin nicht, was Sie denken, dass ich bin. Sie sind, was Sie denken, dass ich bin.“

 

Ich war verwirrt und verstand nicht: „Achso“ sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihr.

 

„Los kommen Sie. Ich gehe vor und denken Sie daran: Lassen Sie nicht meine Hand los!“

 

Wir reihten uns hinter einer Familie mit zwei Kindern ein. Die Mutter weinte. Der Vater schluchzte. Die Kinder wussten nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Der Junge weinte um sein Stofftierschaf, das er hierlassen musste: "Auf wiedersehen Julie-Ann". Der Blick des Mädchens traf meinen Blick. Ich lächelte sie an. Sie lächelte zurück: „Wenn Du die 12 Feinde besiegen kannst, die man nicht sehen kann, erst dann wirst Du die Feinde besiegen können, die man sehen kann“, sagte sie

 

„Was hast Du gesagt?“, fragte ich: „Welche 12  Feinde ?“

 

Meine Begleiterin flüsterte mir ins Ohr: „Egoismus, Arroganz, Einbildung, Selbstsucht, Gier, Lust, Intoleranz, Wut, Lüge, Betrug, Klatsch und üble Nachrede.“

 

Ich starrte sie an. Zeit zum Antworten blieb mir nicht. Wir wurden von hinten nach vorne gedrückt und nun kam die Zeit für uns, auszusteigen.

 

„Halt!“ sagte der Reiseleiter: „Haben Sie irgendwelche persönlichen Gegenstände dabei ? Sie müssen alles hier lassen. Sie dürfen nichts mitnehmen!“

 

„Nein“ sagte ich: „ich habe nichts“. Auch meine Begleiterin schüttelte den Kopf. Der Reiseleiter nickte ernst und machte den Weg frei: „Warten Sie auf Ihren Wagen! Wir werden jeden EINZELN abholen. EIN Wagen, EINE Person. Am Besten Sie verabschieden sich gleich, weil ich Ihnen nicht sagen kann, wie lange es dauert, bis Ihr Wagen sie abholen kommt. Alles Gute und eine gute Reise. Gott schütze Sie!“ murmelte er.

 

Wir stiegen hinaus in eine vexierende,  weite Dunkelheit. Überall waren Sterne. Wagen fuhren vor, Menschen stiegen ein. Familien verabschiedeten sich. Wagen fuhren ab.

 

Da stand ich nun mit meiner fremden Begleiterin, Hand in Hand unter einem Sternenmeer, immer noch halb schlaftrunken und ohne Habseligkeiten, ohne Abfahrt, ohne Ziel: „Wer bist Du?“ fragte ich sie.

 

„Ich bin nicht mehr die, die ich war“, sagte sie: „so wie du“.

 

Ich nickte. Endlich konnte ich sie verstehen.

 

„Meine Hand“ sagte sie: „du kannst sie jetzt loslassen. Da kommt mein Wagen“ und als sie es sagte kam ein roter, schöner Oldtimer vorgefahren. Sie stieg hinein: „Alles Gute“, sagte sie: „Vergiss mich nicht!“

 

Ich schüttelte den Kopf und sah sie abfahren.

 

Alleine stand ich unter dem Sternenhimmel. Es war Nacht, es war Tag, es war, wurde und würde sein.

 

Als mein Wagen vorfuhr öffnete ich die Hand, die ihre die ganze Zeit gehalten hatte.

 

Ein Zettel lag darin.

 

„Wohin soll’s gehen ?“ fragte mich der Fahrer als ich in den Wagen einstieg: „Immer der Sonne entgegen“ sagte ich und lächelte. Dann begann ich zu lesen...

 

 

 

IMG_2832.JPG

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Wow Dio. Ein Wandel der ganz besonderen Art. Vorwärts! Richtung Leben! Eine überaus geile Geschichte die einen sehr guten Blick auf die Seele wirft. Man muss erst alles zurück lassen was man so mit sich umher trägt, einen belastet, um neu anfangen zu können. Ich hoffe die Dame, die dir Halt gegeben hat, fährt an das selbe Ziel wie du...... 

 

LG Alex 

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vor 2 Stunden schrieb Dionysos von Enno:

Meine Begleiterin flüsterte mir ins Ohr: „Egoismus, Arroganz, Einbildung, Selbstsucht, Gier, Lust, Intoleranz, Wut, Lüge, Betrug, Klatsch und üble Nachrede

Tolle Zitate eingebaut. 

 

 

vor 2 Stunden schrieb Dionysos von Enno:

 

„Ich bin nicht mehr die, die ich war“, sagte sie: „so wie du

 

vor 2 Stunden schrieb Dionysos von Enno:

„Ich bin nicht, was Sie denken, dass ich bin. Sie sind, was Sie denken, dass ich bin.“

 

Vielen Dank

 

Federtanz

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