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Stigmatisierung


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Im Jahr 2021 wurde ich im Rahmen eines Studentenprojekts von Studenten der sozialen Arbeit interviewt. Es ging um mein Leben als psychisch Kranker und die damit verbundene Stigmatisierung. Jetzt, da ich mich in diesem Forum "geoutet" habe, an paranoider Schizophrenie zu leiden, möchte ich Auszüge meiner Antworten in diesem Interview hier teilen:
 

"Stigmatisierung bedeutet für mich, aufgrund von diffusem Halbwissen oder Vorurteilen von anderen Menschen eingeordnet zu werden. Bei psychischen Erkrankungen kann das von „schwach“ über „labil und potentiell gefährlich“ bis „faul“ („der will ja nur nicht“) reichen und
soweit gehen, dass man nicht nur ausgegrenzt und unpassend behandelt wird, sondern sich auch selbst als minderwertig ansieht, was natürlich katastrophal ist."
 

"Als ich vor 20 Jahren, mit 22, quasi aus heiterem Himmel, meine erste Psychose hatte und die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ bekam, war ich selbst noch voller Vorurteile und konnte das nicht akzeptieren. Ich schob es von mir weg, nahm sehr unwillig Medikamente
und klammerte mich an die Möglichkeit, dass die Psychose einmalig war, was durchaus sein kann, bei einem Teil der Betroffenen."
 

Zum Thema, in welchen Lebensbereichen man Stigmatisierung erfährt:
"Vor allem, wenn es um Beruf und Karriere geht. Dazu muss man wissen, dass nach jeder Psychose Schäden im Gehirn zurückbleiben. Zurück bleibt, jedenfalls in meinem Fall, das sog. schizophrene Residuum, das sich durch Mangel an Konzentration sowie geringer
Belastbarkeit und Antriebsschwäche bis hin zur Depression äußert. Das Ruhebedürfnis ist erhöht und vor Stress muss man sich sowieso schützen, denn der löst Psychosen aus.
...
Das größte Problem aber ist tatsächlich die (drohende) Stigmatisierung und wie man gegenüber den Mitmenschen mit seiner Lebenssituation umgeht. Die Nachbarn kriegen mit, dass man tagsüber zuhause ist. In dem Dorf, in dem ich mittlerweile nicht mehr wohne, war es ganz schlimm, ein älterer Nachbar bedrängte sogar meine Besucher und wollte sie über meine Krankheit ausfragen und was mit mir los sei. Das waren Menschen, die nicht akzeptieren können, dass jemand, dem man äußerlich nichts ansieht, nicht arbeiten geht und denen alles außerhalb der Norm suspekt ist."
 

Zum Thema Folgen der Stigmatisierung:
"...man wird vorsichtiger und überlegt genau, was man wem sagt. Sonst für mich eigentlich nicht (mehr), ich stehe mittlerweile zu mir und meiner Situation, aber das war ein langer Weg. Nach den ersten Erfahrungen kam ich mir minderwertig vor."
 

Zum Umgang damit:
"Man wird „schlauer“. Wenn sich das Thema Krankheit und Rente nicht vermeiden lässt, sage ich z.B., ich hätte eine „Stoffwechselkrankheit“, das reicht meist und ist nicht gelogen, denn
Schizophrenie ist eine Krankheit des Hirnstoffwechsels. Aber der Begriff ist nicht so mit Vorurteilen behaftet.
Wenn ich jemanden neu kennenlerne, frage ich nicht gleich nach dem Beruf, in der Hoffnung, dass die Person das auch nicht tut. Wenn ich mich dann wirklich von einer Person stigmatisiert fühle, versuche ich diese Person zu meiden. Ich habe glücklicherweise, wie schon erwähnt, genug wahre Freunde, die mich nehmen wie ich bin."
 

Thema Öffentlichkeit:
"Stigmatisierung ist ja ein weites Feld, von rassistischer und sexistischer Stigmatisierung bis hin zu eben Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Krankheit. Jedes Thema muss man getrennt betrachten, da gibt es große Unterschiede in der Aufklärung und Akzeptanz in der Gesellschaft.
Was meine Krankheit, die Schizophrenie betrifft, ist die Berichterstattung katastrophal. Die wird meist nur erwähnt, wenn einer andere umbringt, verletzt oder bedroht. Und dann heißt es, der Täter kommt „in die Psychiatrie“ ohne die Unterscheidung zwischen Psychiatrie und forensischer Psychiatrie zu erwähnen.
Es gibt mittlerweile gute, faktenbasierte Reportagen über Depression und Burnout. Beim Thema Schizophrenie ist mir so etwas noch nicht begegnet, da muss man schon selbst recherchieren, um auf Fakten zu stoßen und wer tut das schon, wenn er oder sie nicht betroffen ist?
Schizophrenie zählt zu den häufigen Krankheiten und wenn die Medien mehr aufklärenwürden, würde sich das Bild und die Akzeptanz in der Gesellschaft verbessern, wie in anderen Bereichen der Stigmatisierung auch."
 

Folgen der Stigmatisierung:
"Stigmatisierung kann natürlich sehr schlimme Folgen haben, bis hin zur „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“, also dass man am Ende sich so negativ verhält, wie man gesehen wird.
Man tendiert gerne dazu, sich durch die Augen der Anderen, „Normalen“, der Mehrheit zu sehen. Stigmatisierung kann also schlimme Folgen für das Selbstwertgefühl und Selbstbild haben. Und wenn man konkret ausgegrenzt wird, sowieso.
Stigmatisierung kann auch wütend machen, was wiederum zu Regel- oder
Gesetzesübertretungen führen kann, was wiederum die Vorurteile bestätigt, wobei wir wieder bei der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wären.
Stigmatisierung fördert generell soziale Spannungen, ich sehe es als eine der größten Herausforderungen für eine moderne Gesellschaft, möglichst in allen Bereichen faktenbasiert aufzuklären, wem immer dies möglich ist."
 

Gründe von Stigmatisierung:
"Weil die Welt, in der wir leben sehr sehr komplex ist und das „Schubladendenken“ das Leben erleichtert. Ein Stück weit finde ich das auch verständlich und legitim, man kann sich nicht mit jeder Thematik wissenschaftlich fundiert befassen."
 

Soweit die Auszüge. Dass ich inzwischen wieder eine Psychose hatte, ändert nichts grundsätzlich, sondern macht die Thematik für mich eher noch wichtiger und aktueller.
 

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Hi "In Flammen"

 

und Danke für den interessanten Beitrag.

 

Ja, hier in Dtld. (anderswo auch??) ist Arbeit der Lebensmittelpunkt, um den sich alles zu drehen hat. Ich schätze mal, das kommt noch aus den Jahren des Wiederaufbaus nach dem desaströsen Verlustes von Papa Hitler. Was Du erzählst -- also, dass da Nachbarn Deine Besucher aushorchen ist extrem und zeigt, wie unverschämt mit einem umgegangen wird, wenn er_sie keinen "Wert" mehr hat.

Dass die Medien nach wie vor nicht über Schizophrenie aufklären - was denkst Du, an was liegt das ? Wer hat einen Vorteil davon, dass keine wirkliche Aufklärung da ist und Menschen mit dieser Krankheit sich weiterhin in der Schamecke aufhalten müssen?
Durch eine frühere Nachbarin hatte ich lange Zeit viel Kontakt mit Schizophrenen Menschen und war immer so krass erstaunt darüber, wie sie sich "abgefunden" hatten -- sprich, nicht einmal in Erwägung zogen, eine Therapie zu machen.

Ja, stigmatisiert_ausgegrenzt zu werden kann sicherlich schlimme Schäden verursachen. Das sind auch Gesetzesübertretungen. Die frau _ man gut verstehen kann. Selbst die PflegerInnen id Psychiatrie behandeln schizophrene Menschen tw. entwürdigend hoch 10. Eine Bekannte von mir war 7 Jahre in der forensischen Psychiatrie u.a. durch ein Falschgutachten (der Gutachter hatte sie nichtmal gesehen!). Es ist ein Wunder, dass sie das überlebt hat -- ich wäre daran zugrunde gegangen.

 

 

vor 6 Stunden schrieb In Flammen:

ich sehe es als eine der größten Herausforderungen für eine moderne Gesellschaft, möglichst in allen Bereichen faktenbasiert aufzuklären, wem immer dies möglich ist."

 

Ja - bei den vielen Fakemeldungen, die inzwischen kursieren und überhaupt dieser extremen Flut an Meldungen auf der Jagd nach Quoten und likes, ist dies sicherlich schwer.

 

Ist die Antipsychiatriebewegung da nicht sehr rege, was Aufklärung angeht?

 

Zu Deinem persönlichen Umgang mit der Krankheit:

Ja, wenn die Umwelt auf Informationen extremst reagiert, legt man sich eine Strategie zurecht - ich kenne das aus einem andren Bereich auch.

 

Danke für Deine Infos - ich finde sie wichtig.

 

Viele Grüße

 

Sternenherz

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Hallo Sterneherz,
 

vielen Dank für deinen Kommentar und dass du die Infos wichtig findest. Ich finde das auch und trage es gerne in ein allgemeines Forum wie hier und nicht in ein Fach-Forum, wo wieder nur Betroffene unter sich sind.
 

Auf einen Punkt würde ich gerne näher eingehen:
Was den Umgang vom Personal in den (nicht forensischen) Kliniken und sozialpsychiatrischen Diensten mit den Patienten betrifft, gibt es große Unterschiede. Und es haben sich einige Dinge geändert in den letzten 20 Jahren. 2001, als ich meine ersten Psychiatrieerfahrungen hatte, galt noch die Devise, die Patienten ruhigzustellen und wirklich von oben herab zu behandeln.
Es gab dann eine Tendenz, den Patienten mehr auf Augenhöhe zu begegnen, ihr Feedback ernst zu nehmen und sie selbst zum Experten für sich zu machen. Zu allen Therapeuten hat sich das aber nicht herumgesprochen, es gibt solche und solche.
 

Aber sehr deutlich zu spüren ist eine andere Tendenz. Vor 20 Jahren durfte man so lange wie nötig bleiben und an den Therapien teilnehmen, das Personal hatte noch Zeit für einen. Heute ächzt das System unter der allgemeinen Kapitalisierung des Gesundheitssystems. Längere Aufenthalte von Patienten lohnen sich für die Kliniken nicht mehr, es sei denn, man ist privat versichert. Das Personal kann sich dem einzelnen Patienten viel weniger widmen, so wie in den Pflegeheimen auch. In diesem Bereich ist das eine besondere Katastrophe.
Ich wurde in meiner Krise, in der ich mehrere Aufenthalte hatte, auch schon einmal in der Klinik abgewiesen, da sie überbelegt war und ich nicht selbst- oder fremdgefährdend *. Und was ich in der Klinik oft erlebt habe, 3 Betten in kleinen Zimmern, die für 2 Betten ausgelegt sind.
Ich hatte dann nochmal, vor gar nicht langer Zeit, zwar keinen totalen Rückfall, aber eine erneute Krise. Der Oberarzt wollte mich direkt wieder heimschicken, ich war einfach nicht krank genug. Nach Verhandlungen durfte ich 3 Tage bleiben...
Die Zustände sind also wirklich nicht besonders gut (auch nach dem Corona-Ausnahmezustand, in den meine Psychose auch noch fiel).
 

Was die ambulante Behandlung betrifft, habe ich Glück. Ich bin in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) der örtlichen Klinik in Behandlung und habe eine Ärztin, die mich tatsächlich auf Augenhöhe behandelt.
Und ich habe Ansprechpartner (jedoch keinen gesetzlichen Betreuer) beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SPDI). Es gibt, sowohl von der PIA, also auch vom SPDI verschieden Gruppen und Aktivitäten, an denen man teilnehmen kann. Aber auch hier merkt man den Geld- und Personalmangel sehr deutlich.

Flammende Grüße

 

* EDIT: Es muss heißen: AKUT selbst- oder fremdgefährdend. Um das mal zu entwirren, es gibt in den normalen Kliniken Akut- und Sub-Akut-Stationen, im Volksmund "geschlossene" und "offene", auf ersteren sind durchaus "schwierige" Patienten. Wirklich und langfristig gefährliche Straftäter landen aber in den forensischen Kliniken, die ganz anders gesichert sind. Ich war ausschließlich auf Sub-Akut-Stationen. 
 

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