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Mama und die Würde


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„Verlassen Sie mein Haus, sofort! Gehen Sie!“ Mamas Stimme bebt, wird brüchig, kreischt jetzt:
„ Geh'n Sie, sofort. Meine Tochter hilft mir, geh'n Sie, sofort.“
Die Frau vom Pflegedienst zuckt ratlos mit den Schultern und wendet sich zur Tür. Sie hat genug.

Sofie hält den uralten, zittrigen Körper in ihren Armen, summt beruhigend vor sich hin.
Es ist viertel nach sieben und Mama hat diese Nacht wieder die Schuhe geordnet, die Schmutzwäsche gebügelt und war nur mit Mühe daran zu hindern, im Nachthemd
in den Garten zu laufen.

Heute ist der vierte Versuch mit der Hilfe eines Pflegedienstes eine Entlastung zu finden, gescheitert.

Mama will sie, immer nur sie, immer nur ihre einzige Tochter, immer nur Sofie.

Die zwei rutschen erschöpft an der Wand herunter auf den Boden und halten sich fest umschlungen.
Mamas dürren Finger werden zu Klauen, Sofie ringt nach Atem, lacht hilflos.

Da, plötzlich kichert Mama, ein breites Lächeln huscht über ihr Gesicht. Vorsichtig beginnt sie, Sofies nackte Beine zu streicheln. Das hat sie noch nie in Sofies Leben getan. Sie murmelt zärtliche Worte und wird dann langsam still.

Sofie macht das Frühstück, wie jeden Morgen seit zweieinhalb Jahren,
öffnet die Fenster und lässt die Sonne in Mamas Zimmer.

Morgen wird sie sich um Hilfe bemühen, ja, vielleicht morgen.

Nun ist Mama gestorben, ganz still für sich, Sofie war gerade einkaufen.

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vor 19 Minuten schrieb Hanna M.:

Da, plötzlich kichert Mama, ein breites Lächeln huscht über ihr Gesicht. Vorsichtig beginnt sie, Sofies nackte Beine zu streicheln. Das hat sie noch nie in Sofies Leben getan. Sie murmelt zärtliche Worte und wird dann langsam still.

 

Hallo liebe Hanna,

die Liebe zu unsere Mutter lässt uns sehr stark werden, ein wenig Hilfe Unterstützung ist trotzdem sehr wichtig. Die Zärtlichkeit der Mutter zum Schluss ist sicherlich noch von einer ganz besonderen Bedeutung für Sofie.

Eine berührende Geschichte, gerne gelesen.

Herzliche Grüße

Josina

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vor 11 Stunden schrieb Hanna M.:

 

Heute ist der vierte Versuch mit der Hilfe eines Pflegedienstes eine Entlastung zu finden, gescheitert.

Mama will sie, immer nur sie, immer nur ihre einzige Tochter, immer nur Sofie.

Da, plötzlich kichert Mama, ein breites Lächeln huscht über ihr Gesicht. Vorsichtig beginnt sie, Sofies nackte Beine zu streicheln. Das hat sie noch nie in Sofies Leben getan. Sie murmelt zärtliche Worte und wird dann langsam still.

Sofie macht das Frühstück, wie jeden Morgen seit zweieinhalb Jahren,
öffnet die Fenster und lässt die Sonne in Mamas Zimmer.

Morgen wird sie sich um Hilfe bemühen, ja, vielleicht morgen.

Nun ist Mama gestorben, ganz still für sich, Sofie war gerade einkaufen.

Liebe Hanna M., eine bedrückend realistische Kurzgeschichte. 

Sie zeigt auch den Egoismus der pflegebedürftigen Mutter, der wohl nicht allein der Demenz geschuldet ist. Bleibt zu hoffen, dass Sofie nach dem Tod der klammernden Mutter noch zu einem eigenständigen Leben fähig ist. LG Stephan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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@Wannovius, lieber Stephan. Genau das will ich mit dieser Geschichte aufzeigen. Solche konkreten Anlässe wie eine Sterbebegleitung in der Familie, haben immer eine lange Vorgeschichte.Aber auch  der Egoismus der alten Frau hat seine Vorgeschichte in der Angst und Verzweiflung von zwei Weltkriegen.

Diese zärtliche Geste aus den Tiefen des Unbewußten zeigt mir deutlich die Not der Verdrängung und der Unfähigkeit zu lieben.

Niemand in dieser Geschichte hatte die Chance, so zu werden wie wir meinen, dass Gott den Menschen gedacht hat. Ich bin nicht religiös und ersetze für mich den Gottesbegriff mit Lebensenergie, das klingt fröhlich und zuversichtlich.

Für mich ist es wichtig, solche Geschichten zu schreiben, legen sie doch den Finger auch in die Wunden unserer Zeit.

Wir sind doch auch genau heute im Krieg mit unserem eigenen Inneren, hysterisch mit den Nachbarn und ungeduldig mit unserem Hund und den Kindern und der tüddeligen Oma.Da fängt es bereits an.

Kaum jemand will etwas über diese Wahrheiten des Lebens wissen,  deshalb schreibe ich gegen Windmühlen, gegen Mauern, gegen verschlossene, vermauerte Herzen, weil auch sie nur ihre Vorgeschichte haben und gesehen werden wollen und müssen.

Ich danke dir für deine klare Antwort und überhaupt, dass du antwortest und dich dem Thema stellst.

LG   Hanna

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Hallo @Hanna M.,

 

eine äußerst realistische kleine Geschichte, die ich ähnlich erlebt habe und somit sehr genau weiß worum es geht.

 

Meine Mutter sagte immer, wenn wir als Kinder auf eine mögliche Pflegebedürftigkeit ihrer Person zu sprechen kamen, dass wir sie in eine Pflegeeinrichtung bringen sollen.

Dann war der Zeitpunkt gekommen und Mutter sträubte sich. Ich schlug eine häusliche Pflege seitens der Caritas vor und überredete sie sich wenigstens den "Plan" anzuhören.

Nachdem das Informationsgespräch zu Ende war, sagte ich ihr, noch im Beisein der Dame, dass sie sich nicht sofort entscheiden müsse. Mutter schaute mich an und sagte: Ich denke du machst das und damit war der "Fall" erledigt. Ich zerriss mich und die Tagesstunden flohen vor Angst vor mir davon. Das einzig Gute war: ich schärfte ihr ein, dass sie im Bett blieb bis ich 8.00h morgens da war und sie hielt sich dran - trotz beginnender Demenz. Ich pflegte Mama vier Wochen, dann beschloss sie zu sterben. Ich glaube, dass sie bemerkte dass mir die Pflege im Grunde zu viel wurde, da ich ja selber krank bin.

 

Ich sage zu meinen beiden Kinder auch immer: bringt mich weg, wenn die Pflege zu Hause nicht mehr machbar ist und hoffe sehr, dass ich dann, wenn es soweit ist, nicht "bockig" bin.

 

LG Sternwanderer

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