Zum Inhalt springen

Papa, ein Poet in Ketten


Empfohlene Beiträge

 

Das mein Vater ein Krüppel war, fiel mir in meiner Jugend nicht auf. Es gab viele Männer, denen ein Arm oder die Beine fehlten oder deren Gesichter zerschossen waren.

Wenn er mit seinem umgebauten Fahrrad die Kopfsteinpflasterstrasse entlangfuhr, beschützten ihn die Panzer der Alliierten. Der Krieg war vorbei; auch an Vater war er vorbeigegangen.Als behindertes Kind hatte er in der Hitlerjugend mitspielen dürfen, zu mehr war er nicht nütze,wie man zu Hause sagte.

Vater war selbständig. Das klingt zynisch, Vater war nie selbständig.

Werktags fuhr er in seinem Auto herum und verkaufte als Großhandelsvertreter Papier und Papierformulare.

Sonntags brütete er zunächst über seinen Steuererklärungen und anschließend beschäftigte er sich mit seiner Briefmarkensammlung. Dabei paffte er eine gute Zigarre.

Er liebte meine Mutter unbeholfen und aussichtslos. Als junger Mann schrieb er Naturgeschichten.

Er war mir fremd.

 

Das hat sich geändert.

In Mutters Nachlass fand ich folgenden Text von ihm:

 

„Der Sonntagmorgen 1945

 

Langsam ist das Dunkel der Nacht der Helle des anbrechenden Tages gewichen, aber noch ist der Himmel grau und verhangen, als ich zu meiner Fahrt durch Feld und Wiesen aufbreche. Die ersten Sonnenstrahlen wollen mit Macht durch das Wolkengedicht brechen, aber es gelingt ihnen nicht.

Der leichte Morgenwind schiebt immer wieder Gewölk in das kleine Sonnenfeld hinein. Es scheint doch langsam zu herbsten. Taufrisch sind die Wiesen, in denen die Grummed kurz vor dem Schnitt stehen und rechts und links des Weges liegen die abgeernteten Felder mit ihren Stoppeln als Sinnbild der langsam absterbenden Natur.

Dazwischen liegen die frisch gefurchten und dunklen Äcker, in die der Bauer wohl noch gestern mit einigen Wünschen und göttlichem Vertrauen die neue Saat gelegt hat.

Am Feldrain hütet ein alter Mann eine Kuh.

Langsam geht er mit ihr Schritt und seine Gedanken weilen sinnend bei seinem Sohn, der noch nicht aus dem Kriege zurückgekehrt ist.

Er weiß nicht, wo er steckt und hofft auf ein baldiges Wiedersehen. In den langen Kriegsjahren ist er sehr gealtert und kann die schwere Landarbeit nicht mehr gut verrichten. Darum möchte er seine kleine Stelle seinem Sohn vermachen, auf den er jetzt wartet.

Wie der alte Mann so Schritt für Schritt mit dem Tier dahinschreitet, heben aus dem Dorf die Kirchenglocken zu leuten an. Da bleibt er einen Augenblick stehen, hebt den Kopf und lauscht.

 

Sonntagsmorgen – Friedensmorgen

 

Kein Hasten der Menschen zur Arbeit oder zu anderen Diensten. Friedlich treten die Menschen vor ihre Haustür und schreiten über die alten Wege der Kirche zu.

Den Weg gehen sie, den Generationen vor ihnen in gleicher Andacht gegangen sind. Als die Welt noch keinen solchen grausamen Krieg kannte.

 

Heute ist er vorbei.

Die Not und die Angst hat ein Ende.

Freier und seelisch froh gehen sie durch den Kirchgarten in das alte Gotteshaus, um Stunde der Einkehr und Besinnung zu halten.

 

Leiser ist das Geläut geworden und ist inzwischen verstummt als ich durch das Dorf fahre. Sonntagsruhe liegt über Haus und Hof.

Feiertag von harter Handarbeit.

Frohsinn und Glückseligkeit liegt auf den Gesichtern der sonntäglich gekleideten Kinder, die vor den Hoftoren spielen.

Alle Menschen haben Freude im Herzen. Sie wollen sie weitergeben und verschenken.

Ich nehme sie bei meiner Morgenfahrt auf und bin mit ihnen freudig und froh.“

 

Ich liebe diesen fremden Mann, der mein Vater ist…

Mehr ist nicht zu sagen.

Es ist ganz still in mir.

Ich wische etwas Feuchtes aus meinem linken Auge.

Es ist wohl der Wind...

  • Gefällt mir 6
  • Danke 1
  • in Love 5
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Liebe Hanna,

deine Geschichte in dem dieser ganz besondere Brief von deinem Vater vorkommt, hat mich sehr berührt.

Ich bin dir sehr dankbar das du sie mit uns teils!

Briefe wie die deines Vaters, die uns daran erinnern, wie es damals war, kurz nach dem Krieg 

Solche Briefe – Worte dürfen nicht verloren gehen!

LG, Josina

  • Gefällt mir 1
  • in Love 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

vor 16 Minuten schrieb Wannovius:

Liebe Hanna M., du hast das Schreibtalent von deinem Vater geerbt. Bei dir müsste unsere deutsche Sprache Vatersprache und die Heimat Mutterland heissen. Wie selbstverständlich damals noch der Kirchbesuch war. 

LG Stephan

@Wannoviusdanke, lieber Stephan, deine Worte kriechen in meine Haut, räkeln sich wohlig und lassen sich nieder. Ich fühle mich gesehen und erkannt. Du bist ein guter Beobachter..

LG Hanna

@Josina für heute erscheinen mir solche Erinnerungen wichtig. LG Hanna

  • in Love 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo @Hanna M.,

 

ich kann meinen Vorkommentatoren nur zustimmen und manchmal findet man in Nachlässen in der Tat Überraschungen,

so wie du diesen wundervollen Brief.

 

Wir Kinder fanden in Mutters Nachlass, Vater war schon lange tot, eine Arztrechnung meines Vaters aus Belgien, als

er als junger Soldat im zweiten Weltkrieg auf dem Weg in die Normandie war.

 

 

MfG

Monolith

 

 

  • Gefällt mir 3
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Danke,@Monolith für`s Teilen eines Ausschnitts deiner Geschichte. Ich will mit meinen Texten dazu beitragen, dass wir uns einen festen, sicheren  Boden für Frieden in dieser Welt erarbeiten können. Deine Geschichte, viele Geschichten müssen mitgeteilt und geteilt werden.

LG Hanna

  • Gefällt mir 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Liebe Hanna,

danke für das Teilen und Öffnen deiner Erinnerungen und Geschichten.

Es sind die Erzählungen und Briefe unserer Vorfahren die uns das Erinnern und Andenken an sie bewahren lassen.
Meine Tante (heuer 98!! und bei bester Gesundheit), erzählte mir jüngst, als wäre es für sie erst gestern gewesen, von einem Vorfall, wo sie 'hochnotpeinlich' eine Vorladung bei der Gestapo erhielt. Es ging um Vorkomnisse in einer benachbarten Familie. Zur Einleitung dieser 'Befragung' wurde ihr der Satz entgegengeschleudert: " Sie wissen schon, dass einige der Menschen die dieses Gebäude betreten, es unter gewissen Umständen nicht mehr verlassen..."

Nun zähle ich auch nicht mehr zu der ganz jungen Generation jedoch beileibe nicht zu den ewig Gestrigen!
Doch lassen einem gerade solche Erzählungen von Zeitzeugen, still und ganz leise werden.

Man wird sich oft erst dadurch der Belanglosigkeiten wieder bewusst, mit denen wir tagtäglich so derartig überschwemmt werden!

Mein kleiner Beitrag hierzu.🥀
LG Uschi
 

  • Gefällt mir 1
  • in Love 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

danke, liebe Uschi,  haben wir aber nicht auch solche Geschichten und Erzählungen in uns, die uns auf unseren eigenen inneren Krieg und Frieden aufmerksam machen. Ich glaube, wenn gerade auch wir Schreiberlinge uns mit unserer Wortgewandtheit an uns selbst erinnern, schreiben, unsere Kunst auch in ein wenig Privatheit münden lassen, kann das ein Bausteinchen zu einer guten (was immer das ist)

Welt sein.

LG Hanna

  • Gefällt mir 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Hanna, der Vater hat wirklich eine wunderbare Ausdrucksweise. Die Geschichte hat mich in den Bann gezogen. Dass er körperliche Einschränkungen hatte, spielt dabei absolut keine Rolle.

Ich finde es auch ergreifend, wie Du schreibst: 

Am 17.8.2024 um 07:08 schrieb Hanna M.:

Ich liebe diesen fremden Mann, der mein Vater ist…

 

Es gibt so viele unerkannte und unentdeckte Talente. Gut, dass es inzwischen Foren, wie dieses hier gibt, wo man sich austauschen kann. 

 

PS: In der ersten Zeile: Dass mein Vater....

 

Liebe Grüße Juls

  • Gefällt mir 1
  • in Love 1
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Erstelle ein Autorenkonto oder melde dich an, um zu kommentieren

Du musst ein Autorenkonto haben, um einen Kommentar verfassen zu können

Autorenkonto erstellen

Neues Autorenkonto für unsere Community erstellen.
Es ist ganz einfach!

Neues Autorenkonto erstellen

Anmelden

Du hast bereits ein Autorenkonto? Melde dich hier an.

Jetzt anmelden
×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Community-Regeln
Datenschutzerklärung
Nutzungsbedingungen
Wir haben Cookies auf deinem Gerät platziert, um die Bedienung dieser Website zu verbessern. Du kannst deine Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass du damit einverstanden bist.