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Digitale Gräber


Carlos

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Ich habe vorhin Irmgard im Bus getroffen, besser gesagt, ich saß im vollen Bus und sie stieg ein, trotz Maske erkannte ich sie sofort, sie mich auch, und ging weiter nach hinten. Ich wusste, dass sie an derselben Haltestelle wie ich aussteigen würde. 

Wir demaskierten uns gleichzeitig, sie schimpfte ein wenig über die Maskenpflicht.

Sie war auf dem Waldfriedhof gewesen, ihren Mann besuchen. Mit einer Freundin war sie dort gewesen, der Friedhof ist groß und verlassen, die Dunkelheit stellt sich früh ein.

Nicht weit von der Kapelle liegt ihr Mann, der von der Freundin, weit. 

Schon vor zehn Jahren ist Irmgards Mann gestorben.

Was machst du morgen um Mitternacht, wollte ich wissen, ich wollte einen Scherz über Knallkörper machen, habe es aber gelassen.

Ich bin alleine, sagte sie.

Ich werde bei dir klingeln, sagte ich.

Sie lachte. Trotz ihres Alters scheint sie noch ihre eigenen Zähne zu haben. Man merkt das an der Art, wie sie lacht. Ihr Mann muss dieses Lächeln geliebt haben.

Blau sind ihre Augen, das konnte ich in der Dunkelheit sehen.

Als sie weg war, fiel mir ein, dass ich ihren Nachnamen nicht weiß, oder doch? Ja, ich hatte sie schon mal danach gefragt. Ich kann alle Namen am Eingang lesen, vielleicht erkenne ich ihren.

Sie hat schöne, blonde Haare, sie müssen in ihrer Jugend Schulterlang, wunderbar gewesen sein.

Ich hätte fast vergessen, dass ich über die Friedhöfe schreiben wollte, sie sind ziemlich das Einzige, was noch nicht modernisiert worden ist. 

Warum muss Irmgard mit dem Bus bis zur Endstation fahren? Mithilfe der Digitalisierung könnte sie, ohne ihre Wohnung zu verlassen,  jederzeit das Grab ihres Mannes besuchen.

Ich weiß nicht, wie das in der Praxis zu machen wäre, aber was ist unmöglich heutzutage?

Auf jeden Fall, es wäre ein erster Schritt, virtuell damit verbunden sein zu können, nicht wahr?

 

 

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Lieber Carlos,

dem LI wünsche ich einen angenehmen Abend in Zweisamkeit. 

Digitale Friedhöfe, ja sowas gibt es auch. Eben Seiten auf denen man sich auf die Verstorbene oder den Verstorbenen bezieht; Bilder und Erinnerungen niederschreibt. Aber reale Friedhöfe haben da eine andere Ausstrahlung. 

Außerdem mag die eine oder der andere, die dort nötige Gartenarbeit. 

Liebe Grüße 

JoVo

 

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Lieber Carlos, das Persönliche finde ich doch allemal besser. Der Besuch auf dem Friedhof ist sicher zur Gewohnheit geworden, wobei ich einen Friedwald bevorzugen würde. Eine Stätte der Begegnung mitten in der Natur, dass käme mir sehr entgegen. 

So vereinsamt man als Hinterbliebener nicht, kann sich austauschen und trösten. Man  kommt ins Gespräch, so wie ihr dort an der Haltestelle. Das menschliche Miteinander kann meines Erachtens die Technik nicht ersetzen. Sollte sie auch nicht. Die Gefahr, dass man selbst zum digitalen Grab wird, ist groß, wenn man sich nur hinter der Technik verschanzt. 

 

Liebe Grüße und einen guten Rutsch wünscht Dir, Juls ☺️

 

 

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Wie schön Du schreibst, liebe Juls. 

Drei Mal hintereinander habe ich, langsam, deinen Text, Satz für Satz, gelesen. 

Deutsch ist wirklich eine wunderschöne Sprache. 

Die deutsche Sprache war auch eine Leidenschaft von Jorge Luis Borges. Er pflegte bei Interviews folgendes Gedicht von Heinrich Heine vorzutragen. Heine schrieb übrigens das kleine Gedicht in Paris, 1834. Dort lebte er im Exil, dort ist er, auf dem Friedhof von Montmartre begraben.

 

Ich hatte einst ein schönes Vaterland 

 

Ich hatte einst ein schönes Vaterland,

der Eichenbaum

wuchs dort so hoch, die Veilchen

nickten sanft.

Das küsste mich auf Deutsch und sprach auf Deutsch

(man glaubt es kaum

wie gut es klang) das Wort: "Ich liebe dich!"

Es war ein Traum. 

 

Borges konnte dieses Gedicht auswendig. Ich auch. 

 

Vielen Dank meine Freundin, mein Bodyguard, ich danke dir von Herzen.

 

🐥

 

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Das ist ein schönes Gedicht, lieber Carlos. Ich bewundere Menschen, die belesen sind und spontan Gedichte zitieren können. Das Forum hier ist übrigens die beste Art, die Technik zu nutzen. Wir können uns aus der Ferne heraus austauschen. Es ersetzt nicht das persönliche Gespräch, ist aber heutzutage eine moderne Form der Begegnung besonders über große Entfernungen hinweg. 

 

Wir lesen uns. Herzlichst Juls

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Vielen Dank Juls für deine erneute Reaktion.

Tja, es scheint so zu sein, dass wir uns langsam daran gewöhnen müssen, so zu kommunizieren. 

Früher tat man dies, bei großen Entfernungen, mit Briefen, die, wenn es zu anderen Kontinenten gingen, oft Wochen und sogar Monate vergingen, bis man eine Antwort hatte. 

Dann kam das Telefon.

Davor gab es das Telegramm, für minimalistische Mitteilungen. 

Heute ist es praktisch umgekehrt: Es gibt keine Entfernung mehr.

 

Vielen Dank Perry für deine Rückmeldung.

Es wäre wirklich schade, wenn die noch bestehende Form der Friedhöfe sich verändern würde. Außer Kirchen sind sie ziemlich die einzigen Orte, wo man in Ruhe meditieren kann.

Die Wälder sind zu gefährlich, mit Wölfen und Räubern und Joggern 😉

Hallo JoVo, 

meinst du, wenn es nach dir ginge, könnten die Friedhöfe aufhören zu existieren? 

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Hallo, lieber Carlos

Eine sehr schöne Geschichte, die du geschrieben hast. Digitale Friedhöfe, nein, das wäre nichts für mich. Wie oft habe ich einen älteren Mann auf der Bank gesehen, der mit seiner verstorbenen Frau spricht. Mancher mag denken, der ist senil. jedoch ich finde, dadurch ist das Band noch nicht ganz zerschnitten und es rührt mich, dies zu beobachten.

Ich wünsche dir einen guten Rutsch ins neue Jahr

LG sendet dir Pegasus

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Herzlichen Dank für dein Lob, liebe Pegasus. 

Dein Künstlername ist besonders schön. 

Natürlich muss man immer dabei an diese fabelhafte Figur, eine der schönsten in der Mythologie, denken. 

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass du diesen Namen auserwählt hast. Ich interpretiere es als Zeichen für einen Menschen, der solide ist und in der Realität lebt und, gleichzeitig, gerne träumt. 

Tja, die Friedhöfe. Ich hoffe, sie bleiben für immer so erhalten.

Ich kenne einen Spruch, Worte die, ursprünglich, an einem Grab in altem Rom zu lesen waren, an einen möglichen Besucher gerichtet: 

 

           QUOD ES ERAM 

           QUOD SUM ERIS 

 

"Was du bist, war ich, 

was ich bin, wirst du" 

 

Ein letztes Zitat: 

 

MEDIA VITA IN MORTE SUMUS.

 

Wir wähnen uns mitten im Leben, und plötzlich sind wir tot.

 

Das gilt natürlich nicht für uns, liebe Pegasus, nicht wahr? 

 

 

 

 

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Servus

 

Warum das, lieber JoVo? 

Wenn man deinen Gedankengang weiter verfolgt und quasi AD ABSURDUM führt, könnte man auf die Idee kommen, die Parkanlagen zu erweitern...

Technisch gesehen, könnte man sogar, ohne die Gräber zu beseitigen, unter ihnen Parkplätze bauen. 

Ich glaube nicht, dass eine Urne Zuhause das Andenken an den Verstorbenen fördert, im Gegenteil, man gewöhnt sich daran und denkt nicht mehr an den Inhalt, als etwas Besonderes. 

Im Garten verstreuen... Ok, wenn man einen Garten hat. 

Friedhöfe sind etwas sehr Wichtiges mein lieber Freund.

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Also, digitale Friedhöfe würde ich auch nicht mögen, lieber Carlos. Jeder soll das für sich so entscheiden, wie er möchte. Wie schon geschrieben wurde, brauchen viele Angehörige eine Stätte, wo sie hingehen und sich dem Verstorbenen nahe fühlen können.

Ich persönlich möchte, dass meine Urne in einem Kolumbarium beigesetzt wird. So gibt es eine Stätte, wo die Angehörigen hingehen können, ohne die Verpflichtung der Grabpflege. Ich erinnere mich gut, wie schwierig das mit dem Grab unseres Vaters war, obwohl 3 meiner Geschwister vor Ort wohnten...

 

Ein ernstes Thema, das du hier aufgegriffen hast, und doch nicht ohne Humor erzählt. Gefällt mir.

 

Lieben Gruß und ein gutes neues Jahr

 

Elisabetta

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Grüß Gott

 

Unheimlich gut finde ich deinen Kommentar liebe Elisabetta. 

Columbarium ist ein sehr schönes Wort, es kommt direkt aus dem Lateinischen und bedeutet Taubenschlag, wegen der Ähnlichkeit sicherlich. 

Taube heißt Columba. 

Auch das griechische Wort dafür ist schön: Περιστέρι, Peristéri. 

Aspro Peristeri: Weiße Taube.

Hier muss ich an das Lied "Una paloma blanca", Eine weiße Taube " denken, das ist ja Spanisch.

Das englische Wort DOVE erinnert sehr an TAUBE, mittelhochdeutsch. 

Interessanterweise, das spanische Wort für Krieg, in GUERRA, sowie das Gleiche in anderen romanischen Sprachen, stammt aus dem germanischen Wort WIRRWARR. 

Die Sprache ist die höchste Erbschaft, das wertvollste, das wir von den Menschen, die vor uns gelebt haben, erhalten. 

Selten denken wir daran, wir benutzen sie automatisch, blind, als Mittel zum Zweck. 

Wir lesen ab und an die Namen von unbekannten Toten, wenn wir uns mal auf einem Friedhof verirren. 

Ich selbst habe schon vorgesorgt für meine Bestattung: Sogar die Blumen sind im voraus bezahlt. Die Asche wird im Grab meiner Frau, unter einem Baum, wo 11 andere Urnen liegen, im Kreis. Auf der Platte wird zu ihrem Namen meinen hinzufügefugt, und das Datum 1946-2064 oder so um den Dreh 😉

Alles Gute wünsche ich dir in diesem neuen Jahr und immer.

Liebe Grüße

Carlos 

 

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